Türkei gedenkt Putschversuch vor einem Jahr mit viel Pathos

Türkei gedenkt Putschversuch vor einem Jahr mit viel Pathos

15.07.2017, 18:04

Ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei hat die Staatsführung mit landesweiten Gedenkfeiern die Einheit des Landes beschworen. Das Parlament in Ankara würdigte bei einer Sondersitzung die «Märtyrer und Helden» der Putschnacht vom 15. Juli 2016.

«Es ist ein Jahr her, dass aus der dunkelsten Nacht die Nacht der Helden wurde», sagte Regierungschef Binali Yildirim am Samstag bei seiner Ansprache vor den Abgeordneten. Er bezeichnete die Putschnacht als einen siegreichen «zweiten Unabhängigkeitskrieg» und bezog sich damit auf den Krieg nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, aus dem 1923 die Türkische Republik hervorgegangen war.

Zu seinen Zuhörern im Parlament gehörte auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, den eine Gruppe von Militärs im vergangenen Jahr zu stürzen versucht hatte. Er sass während der Ansprachen mit versteinertem Blick auf einem Platz in den Rängen.

Der Chef der grössten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, warf der Regierung «Behinderungen» bei der Aufarbeitung der Putschnacht vor. «Über das vergangene Jahr hinweg haben sich alle Rechtsabläufe immer weiter vom gesetzlichen Rahmen entfernt», sagte er . «Die Justiz wurde zerstört.»

«Statt einer schnellen Normalisierung haben sie einen bleibenden Ausnahmezustand erschaffen», sagte Kilicdaroglu. Für eine vollständige Aufarbeitung des Putsches müssten diejenigen, die die Putschisten und Unterstützer «an den empfindlichsten Stellen des Staates» platziert hätten, zur Rechenschaft gezogen werden, forderte der CHP-Chef weiter mit Blick auf die Regierung.

«Zweiter Putsch»

Der stellvertretende Chef der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Ahmet Yildirim, kritisierte unter anderem die Massenentlassungen und Inhaftierungen von HDP-Abgeordneten und warf der Regierung vor, einen «zweiten Putsch» durchgeführt zu haben.

Im Zuge der Notverordnungen griff die Regierung mit aller Härte gegen ihre Kritiker und politischen Gegner durch. Mehr als 50'000 Menschen wurden seit der Putschnacht in der Türkei inhaftiert, mehr als 100'000 Staatsbedienstete entlassen oder vom Dienst suspendiert. Betroffen sind neben tausenden Militärs, Polizisten, Staatsanwälten und Richtern auch kurdische Oppositionelle, kritische Journalisten und unabhängige Wissenschaftler.

Die Vorwürfe Kilicdaroglus gegen die Regierung fielen vergleichsweise milde aus, da Opposition und Regierung für den Gedenktag einen Burgfrieden geschlossen hatten. Erdogan will in der Nacht (22.30 Uhr MESZ) an einer Bosporus-Brücke in Istanbul ein Denkmal für die 249 Opfer des Putschversuchs enthüllen.

Martialische Plakate mit Szenen aus der Putschnacht riefen die Türken dazu auf, kurz nach Mitternacht zu «Demokratiewachen» auf den Strasse zusammenzukommen. Anschliessend will Erdogan selbst im Parlament reden; die Rede soll um 01.32 Uhr MESZ beginnen - exakt zu jenem Zeitpunkt, zu dem vor einem Jahr das Parlament von den Putschisten bombardiert wurde.

Regierung beschuldigt Gülen-Anhänger

Am Abend des 15. Juli 2016 hatte eine Gruppe Militärs versucht, die Macht in der Türkei an sich zu reissen. Sie besetzten Strassen und Brücken und bombardierten das Parlament und den Präsidentenpalast, doch scheiterte der Umsturzversuch am Widerstand der Bevölkerung. Dass der Putsch vereitelt wurde, wertet die türkische Regierung als einen historischen Sieg der Demokratie.

Erdogan machte damals umgehend den islamischen Prediger Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich. Der in den USA lebende Geistliche bestreitet jede Verwicklung.

Aber auch die Opposition zweifelt nicht daran, dass Gülen-Anhänger hinter dem versuchten Staatsstreich standen. Sie wirft aber Erdogan vor, den Putschversuch als Vorwand genutzt zu haben, um gegen sämtliche Gegner vorzugehen.

International stiess das harte Vorgehen Erdogans gegen seine Gegner auf scharfe Kritik. Ankara warf seinen westlichen Partnern dagegen einen Mangel an Solidarität vor. Heute ist das Verhältnis zu wichtigen Verbündeten zerrüttet, während die Türkei selbst tief gespalten ist. (sda/dpa)

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