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St Gallen

Potenzielle Gewalttäter: Wie Psychiater zerrieben werden

«Wen habt ihr denn da laufen lassen?» – Das Dilemma der Psychiater

Er war den Behörden bekannt, der 17-Jährige, der am Sonntag in Flums acht Menschen mit einem Beil verletzte. Sie entschieden aber, dass von ihm keine akute Gefährdung Dritter ausgeht. Offensichtlich eine Fehleinschätzung. Wie das passieren kann – und weshalb es immer wieder passieren wird.
24.10.2017, 11:3224.10.2017, 11:48
Daniela Karst / sda
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Warum hat nicht einmal ein Psychiater es kommen sehen? Nach jeder Aufsehen erregenden Bluttat steht diese Frage im Raum – etwa nach dem Amoklauf in Salez 2016 oder nach dem Vierfachmord von Rupperswil. Und so auch jetzt nach der Bluttat in Flums. Die Antwort mündet in einem Dilemma.

Bei potenziellen Gewalttätern werden Psychiater zerrieben zwischen den Bedürfnissen ihrer Patienten und den Sicherheitsansprüchen der Gesellschaft. «Als forensischer Psychiater würde ich sehr viele Leute als potenziell gefährlich bezeichnen; sie werden dennoch nie gewalttätig, obwohl sie nie psychiatrisch behandelt werden», sagt Elmar Habermeyer, Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Beil Flums
Mit dieser Axt griff der 17-Jährige in Flums acht Menschen an. Bild: Kapo St.Gallen

Das Schlüsselwort in diesen Sätzen ist: potenziell. Diese Menschen könnten vielleicht gewalttätig werden. Andere werden gewalttätig – und niemand hatte sie auf dem Radar, wie den mutmasslichen Rupperswiler Vierfachmörder. Menschliches Verhalten lässt sich nicht zu hundert Prozent vorhersagen.

Mr. Hyde ist nicht gewalttätig

Gewalttaten von psychisch kranken Menschen stossen auf Abscheu – und beflügeln zugleich die Fantasie. Zeugnis davon geben die vielen Serientäter in der Kriminalliteratur. Berühmtestes Beispiel ist «Der seltsame Fall des Dr. Jeckyl und Mr. Hyde», eine Novelle von 1886 über einen gewalttätigen Schizophrenen. Diese Darstellung habe mit dem Krankheitsbild nichts gemein; für die Kranken bleibe sie aber bis heute ein Stigma, sagt Habermeyer.

Schizophrenie sei eine schwere psychische Erkrankung, die mit Störungen der Realitätswahrnehmung verbunden sei. «Schizophrene Menschen haben zwar ein erhöhtes Gewaltrisiko im Vergleich zu den psychisch Gesunden, aber nur einer von 2000 Schizophrenen wird gewalttätig.» Dies liegt nicht daran, dass Schizophrene brav in die Therapie gehen und ihre Medikamente schlucken.

Gemäss Studien nehmen 1600 von 2000 Schizophrenen ihre Medikamente nicht regelmässig ein. «Schizophrene Patienten haben oftmals eine schlechte Behandlungseinsicht. Sie sind krankheitsbedingt, weil sie sich verfolgt oder bedroht sehen, extrem misstrauisch.» Gerade Patienten mit problematischen Verhaltensweisen verweigerten in einer sich zuspitzenden Krise Behandlungen und setzten Medikamente ab.

Jeder Entscheid falsch

Ein allgemeiner Psychiater kann solche Patienten nicht zu etwas zwingen. Die Therapie ist freiwillig. Es gibt Medikamente mit Langzeitwirkung, doch: «Es gibt fast keine Möglichkeiten, einem Patienten Depotmedikamente zu verabreichen, wenn er nicht will.»

Ein Psychiater habe bei einem womöglich gefährlichen Patienten nur die Wahl zwischen zwei falschen Entscheiden: dem Einsatz von Medikamenten gegen den Willen des Patienten oder dem Risiko, dass man ihm Verantwortungslosigkeit vorwerfe. «Wird ein psychisch auffälliger Mensch, der in Behandlung war, später einmal gewalttätig, heisst es: Wen habt ihr denn da laufen lassen?»

Eine Blutlache vor einem Tankstellenshop am Tatort wo ein 17-jaehrigen Mann mehrere Personen mit einer Axt verletzt hat, aufgenommen am Sonntag, 22. Oktober 2017, in Flums. Der Taeter ist Lette und so ...
An dieser Tankstelle verletzte der Täter von Flums drei weitere Menschen, bevor er von der Polizei gestoppt wurde.Bild: KEYSTONE

Psychiater wüssten um das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Doch Kriminalprävention sei Aufgabe vieler Akteure. «Die ‹Problemfälle› sind oft beim Sozialamt als querulant bekannt, beziehen bei der IV eine Rente, die Polizei kennt sie wegen Ruhestörungen und die Psychiatrie, weil sie sie wegen Alkoholsucht behandelt hat. Die Informationen werden aber nicht zusammengefügt, und man setzt sich nicht zusammen und überlegt, wie man diesem Menschen helfen könnte.»

Einige Kantone kennen Ansätze, so Zürich mit dem kantonalen Bedrohnungsmanagement – Gewaltschutz, und grössere Städte haben Anlaufstellen für psychisch Kranke. Doch auf dem Land bleiben viele allein.

Zwang als Chance

Bei Krisen bleibt oft nur eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie mittels Fürsorgerischer Unterbringung (FU). Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan schätzt, dass 2015 rund 14'000 FU angeordnet wurden.

Eine FU könne nur bei akuter Gefahr verfügt werden, weil sie einen massiven Eingriff in die Grundrechte bedeute. Ein Psychiater mache es sich nicht leicht, wenn er sich dafür entscheide, denn die «paternalistischen» Zeiten, als «der Psychiater, wusste, was gut für den Patienten ist und der sich zu fügen hat», seien vorbei.

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Teenager greift in Flums mehrere Personen mit Axt an
Bei der Gewalttat in Flums sind am 22. Oktober 2017 sieben Personen verletzt worden. Ein Baby musste zur Beobachtung ins Spital gebracht werden. Der mutmassliche Täter, ein 17-jähriger Lette, griff die Passanten mit einem Beil an.
quelle: epa/keystone / eddy risch
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Beim Zürcher Forensik-Professor in der «Gerichtspsychiatrie» landen die schon verurteilten, psychisch kranken Straftäter. «Wir von der Klinik geben dann die Behandlungsstruktur vor.» Zwang sei manchmal eine Chance für psychisch kranke Menschen.

Alle präventiv einzusperren, sei in einem Rechtsstaat keine Option. Und da nur ganz wenige auch gewalttätig werden, bringt diese Art «Gewaltprävention» nichts: «An der Gesamtkriminalität der Gesellschaft würde es nichts ändern.» Der Grossteil der Gewalttäter leide nicht an psychischen Störungen. (sda)

Hinweis
Dieser Text ist in seiner Grundform vor dem Angriff in Flums entstanden. Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand des 17-jährigen mutmasslichen Täters von Flums sind aus Sicht des zitierten Fachmanns nicht zulässig.

Stephan Ramseyer, Leitender Jugendanwalt, über den mutmasslichen Täter von Flums

Video: watson/Sarah Serafini
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12 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Friction
24.10.2017 12:14registriert September 2016
Danke für diese Perspektive. Hierin zeigt sich das Dilemma eines Rechtsstaates und der darin agierenden Menschen mit ihren unterschiedlichen Rollen sehr gut. In solchen Dillemata stehen nebst Professionellen aus der Psychiatriae auch Polizei, Gerichte, KESB, Ärzte etc.
Der Aufruf nach Vernetzung im Sinne der Unterstützung einer potentiell gefährdeten Person und zum Schutze der Gesellschaft erachte ich als zentral. Wobei auch hier dasselbe Spannungsfeld erkennbar wird.
Danke den Menschen, die sich trotz dieser Spannungsfelder zu Entscheidungen durchringen. Es ist nicht einfach und belastend.
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wipix
24.10.2017 12:24registriert Oktober 2015
Beobachtung aus den Kommentarspalten div. Medien und SocialMedias:
Die pauschale Reaktionen und damit verbundene politische Instrumentalisierung von Rechts bis Links ist leider Typisch für die heutige Debattenkultur!Abklärungen seitens der Involvierten Behörden waren, soweit bekannt, zeitgemäss und entsprechend intensiv. Schuldzuweisungen zu einem so frühen Zeitpunkt sind vor allem eines:
Destruktiv
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Angelo C.
24.10.2017 12:47registriert Oktober 2014
Daraus in Politikum zu machen, halte ich für falsch....

Was mir hingegen als naiv, blauäugig und inkompetent einfährt ist, dass man es seitens der früher abklärenden Amtstellen geradezu klassisch versäumt hat, das Internet (vor Allem den Facebook-Eintrag!) nach Gewaltäusserungen zu checken 🤔.

Wir leben in einem teils virtuellen Zeitalter und JEDER müsste eigentlich wissen, dass fast alle jugendlichen Gewalttäter, u.a. oft auch potenzielle Terroristen gerade dort im Vorfeld ihrer Taten erstaunliche Duftmarken hinterlassen.

Hilfreich demnach, künftig sowas geistig mit einzubeziehen.
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