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Roger Köppel und Markus Somm waren einst Teil des linksintellektuellen Milieus. Heute sind die beiden «politisierenden Chefredaktoren» ergebene Gefolgsleute von Christoph Blocher und Vorkämpfer der rechtsnationalen Publizistik. Was hat sie dazu gemacht? «Es ist ihre gemeinsam geteilte Schwäche für die Narration der Stärke, die sie dem alten Mann verfallen liess, der in seiner physischen Nähe eine unheimliche Suggestivkraft entwickeln kann.»
Treffender als mit diesem Satz lässt sich die Transformation von Köppel und Somm kaum beschreiben. Man findet ihn im neuen Buch des Geografen und Politikwissenschaftlers Michael Hermann mit dem Titel «Was die Schweiz zusammenhält». Es ist nur eine von vielen prägnanten und gleichzeitig erhellenden Passagen.
"Was die Schweiz zusammenhält" frisch auf dem Tisch. So schön :) Vernissage nächsten Montag: https://t.co/ivrUQtF47P pic.twitter.com/IuC0ehREUK
— Michael Hermann (@mhermann_) August 16, 2016
Der gebürtige Huttwiler ist eine für hiesige Verhältnisse seltene Erscheinung: Ein Intellektueller, der kluge Gedanken entwickeln und in einer eleganten und verständlichen Sprache ausdrücken kann. Und der keine Scheu hat vor pointierten Standpunkten. Vor zwei Jahren sorgte er für Aufsehen, als er in seiner Kolumne im «Tages-Anzeiger» den Abschied vom «kühlen Denken» erklärte. Damit lasse sich dem «neuen Chauvinismus» der SVP nicht begegnen.
Michael Hermanns Herz schlägt links der Mitte, was man seinem neuen Buch anmerkt. Ein «Überzeugungstäter» aber ist er nicht, er hat dem «kühlen Denker» in sich nicht vollständig gekündigt. Zum Glück, denn als reine Anti-SVP-Streitschrift wäre das Buch nur bedingt geniessbar. In vier Essays versucht Hermann, den im Titel geweckten Erwartungen gerecht zu werden. Und stellt gleich im Vorwort klar, dass es den einen Faktor, der «die Schweiz zusammenhält», nicht gibt.
Die Schweiz ist eine «eigentümliche Nationalität», lautet die Überschrift des ersten Textes. Ihre Identität ist nicht ethnisch oder kulturell, sondern durch das politische Konzept der «Willensnation» definiert. Es wurde immer wieder herausgefordert, nicht zuletzt während der beiden Weltkriege. Die Schweiz aber hat «im Auge des Orkans» alle Stürme überstanden. Dabei entwickelte sie im Verhältnis zur Aussenwelt auch die problematische Mischung aus Überlegenheitsgefühl und latentem Minderwertigkeitskomplex.
Im zweiten und spannendsten der vier Essays sucht der Autor nach den Gründen, warum sich in diesem Land ein festes Gewebe gebildet hat, das allen Zerreissproben standhielt. Seine Antwort: Im Gegensatz etwa zu Belgien, wo alle wichtigen Konfliktlinien entlang der Sprachgrenze zwischen Flandern und Wallonien verlaufen, schaukeln sich in der Schweiz die Gegensätze nicht auf. Sie ziehen sich quer durch die Sprachregionen und Konfessionen. So kämpfte das katholische Tessin bei der Gründung des Bundesstaats 1848 auf der Seite der Reformierten.
«Der weltanschaulich-konfessionelle Gegensatz federte den für die mehrsprachige Schweiz verhängnisvollen sprachlich-ethnisch geprägten Nationalismus ab, weil er quer dazu verlief», argumentiert Michael Hermann. Auch im Jurakonflikt erfolgte der Bruch entgegen dem Mythos nicht an der Sprach-, sondern an der Konfessionsgrenze: «Nur der katholische Nordjura hat sich abgespalten, während der reformierte Südjura Bern treu geblieben ist.»
Reibungsfrei aber war das Verhältnis zwischen der deutschen und der französischen Schweiz aber nicht, im Gegenteil. Dabei liefert der Autor einige überraschende Einblicke. Wer weiss etwa, dass sozialpolitische Abstimmungsvorlagen bis in die 1970er Jahre in der Deutschschweiz mehr Zustimmung erhielten als in der als etatistisch verschrienen Romandie? «Weil die Westschweiz insgesamt weniger industrialisiert war, stimmte sie weniger links», schreibt Hermann.
Erst das EWR-Nein von 1992 und die Wirtschaftskrise der 1990er Jahre liessen die Romandie nach links rücken. Heute gehört selbst der ehemals tiefschwarze Kanton Freiburg zu den Hochburgen der SP. Die «Weltwoche» verunglimpfte die Romands 2012 als «Griechen der Schweiz». Doch das Gewebe erwies sich auch in diesem Fall als sehr strapazierfähig. Der oft beschworene «Röstigraben» hat politisch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren.
Dafür verschärft sich ein anderer Gegensatz, jener zwischen Stadt und Land. Ihm widmet sich Michael Hermann im dritten Essay. Als «roter Faden» dienen die «Heidi»-Bücher von Johanna Spyri, die die Geborgenheit der Dorfgemeinschaft als Kontrast zur anonymen Grossstadtwelt zelebrieren. Spyri selbst war im ländlichen Hirzel aufgewachsen und erlebte in Zürich am Ende des 19. Jahrhunderts ein rasantes Städtewachstum, wie es zuvor und danach nie mehr stattfand.
Bis heute tendiert die Schweiz zur Idealisierung des Dorflebens, obwohl der soziale Kitt am Bröckeln ist. Mehr als zwei Drittel aller Gemeinden haben Probleme, Milizämter zu besetzen. Auch das Vereinsleben leidet, unter den Mitgliedern findet man viele «Karteileichen». Gleichzeitig haben die «rot-grünen» Städte eine Renaissance erlebt. Auch das geschieht nicht ohne Nebenwirkungen: Weniger gut Verdienende werden zunehmend an Randlagen verdrängt.
Oft landen sie in der «Zwischenwelt» der Agglomeration. Michael Hermann versucht sich in einer Ehrenrettung, was nur bedingt gelingt. «Die Agglomeration wird als ‹Schlafstadt› abqualifiziert, in der die Menschen zwar wohnen, aber nicht leben», schreibt er. Das aber gilt auch für viele «zersiedelte» Dörfer. «Die Schweiz der gepflegten Dörflichkeit gibt es nicht mehr», stellt der Autor selber fest. Sein (zu) versöhnliches Rezept: «Am Schluss braucht es aber bloss den Willen, in die Qualität des Lebensraums zu investieren, und die Kreativität, das Beste daraus zu machen.»
Bei der Analyse der politischen Schweiz im vierten Text zeigt sich Hermanns skeptische Seite. In der für Ausgleich und Konsens bekannten Demokratie habe sich in den letzten Jahren «eine der polarisiertesten Parteienlandschaften Europas ausgebildet». Taktgeber war die SVP, in der unter dem Einfluss von Christoph Blocher in den späten 1990er Jahren «ein weltanschaulicher Säuberungsprozess» begonnen habe. Die anderen Parteien zogen nach.
Dadurch erfolgte eine Schwächung der Mitte: «Gemässigte machen sich verdächtig, insgeheim dem weltanschaulichen Gegner zuzudienen. Ganz ähnlich funktionieren Sekten – auch hier gilt als Häretiker, wer die eigenen Glaubenssätze hinterfragt.» Dadurch erlebte die hiesige Politik eine schleichende «Europäisierung»: Die Frage, ob sich im Parlament eine Mitte-links- oder eine Mitte-rechts-Mehrheit bilden lässt, ist zu einem wesentlichen Faktor geworden.
Der Preis für diese Entwicklung ist eine zunehmende Reformstarre. Seit Jahren nimmt im Parlament die Breite der Unterstützung für Reformvorlagen ab. Wohin dies führen kann, zeigt Hermann am Beispiel seines Heimatkantons Bern, wo seit Jahrzehnten «eine Mehrheit der Strukturschwachen» die Politik bestimmt und Reformen blockiert. Eine Folge davon: «In Bern wird das Geld immer knapper, trotz finanzieller Abfederung durch den Nationalen Finanzausgleich.»
Michael Hermann verbirgt eine Frustration über den Rechtsrutsch bei den Wahlen 2015 nicht. Und ist dabei nicht frei von Widersprüchen. «Heute rächt es sich, dass der eingängigen, konservativen Schweizerzählung nie eine progressive, patriotische Narration entgegengestellt wurde», schreibt er im ersten Essay. Um im letzten Teil unter dem Eindruck des erfolgreichen Kampfes gegen die Durchsetzungsinitiative zum Schluss zu kommen: «Erst die unerschrockenen jungen Menschen um Flavia Kleiner von ‹Operation Libero› haben wieder aufgezeigt, welche Kraft eine progressive Narration von Mut, Offenheit, Fairness und Leistungswillen auch heute noch entwickeln kann.»
Gibt es ihn also doch, diesen progressiven Patriotismus? Das müsste eigentlich Grund für Zuversicht sein, doch Hermann ist nur bedingt optimistisch. Der Erfolg von Operation Libero sei auch Ausdruck davon, dass der progressive Geist bei den Parteien bislang kein richtiges Zuhause gefunden habe «und wie ein Suchender, der nirgendwo zur Ruhe kommt, durch die Parteienlandschaft irrt». Es ist eine Befindlichkeit, die Hermann auch im Gespräch mit watson erläutert hat.
Ein Schwarzmaler aber ist der «politische Landvermesser» nicht. Mit seinem Buch will er zeigen, «dass es sich lohnt, weiter am Gewebe dieses eigentümlichen Landes zu arbeiten». Was selbst die «Weltwoche» anerkennt: «Michael Hermann ist eines der gescheitesten Bücher zur Schweiz gelungen – unterhaltsame Pflichtlektüre für alle, die in der Politik dieses Landes mitreden wollen.» Dem ist nichts hinzuzufügen.
Die Vernissage von Michael Hermanns Buch findet am kommenden Montag im Kaufleuten in Zürich statt, in Form einer Podiumsdiskussion. Neben dem Autor nehmen SP-Nationalrätin Min Li Marti, SVP-Nationalrat und AUNS-Präsident Lukas Reimann und Flavia Kleiner von Operation Libero daran teil.