Ein Jahrhundert, das tönt nach Ewigkeit. Doch die Schweiz vor 100 Jahren ist gar nicht so weit weg von unserer heutigen Gesellschaft. «Manchmal ist diese Zeit erschreckend gegenwärtig», findet auch Andreas Spillmann, der Direktor des Schweizerischen Nationalmuseums. Er muss es wissen, denn in «seinem» Landesmuseum Zürich eröffnet am 28. März eine neue Wechselausstellung: 1900 -1914: Expedition ins Glück.
Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ähnelt unserer Welt, weil auch damals schon Menschen durch Modernisierung, Globalisierung und Beschleunigung verunsichert waren. Die Ausstellung spiegelt die unterschiedlichen Aspekte der Epoche in acht Schwerpunkten wider:
1. Das neue Jahrhundert, 2. Sexualität und Träume, 3. Frau und Mann, 4. Utopie und Freizeit, 5. Militär im Frieden, 6. Wirtschaft und imperiale Märkte, 7. Erfindungen der Wissenschaft , 8. Das Zeitalter der Massen und 9. Exit.
Diese Einteilung zeigt auch, was nicht im Fokus steht: politische Probleme wie die Frage nach der Kriegsschuld. «Wir haben nicht jedes Werk von [der deutschen Malerin] Käthe Kollwitz angeschaut, als sei es nur ein Hinweis auf den Krieg gewesen», erklärt Stefan Zweifel sein Vorgehen: Zusammen mit Juri Steiner ist er als Gastkurator für die Auswahl der Exponate verantwortlich.
Ihre Bandbreite reicht von einer Geburtszange über alte Fächer und Rasierer bis hin zum Riesenrad-Spielzeug, das nahe eines Plakats platziert ist, von dem «Raucht Problem Cigaretten» prangt. Am Rande werden die Besucher auch mit dem Tod konfrontiert. Nämlich mit dem von Franz Reichelt, der eigens die Presse einlud, damit diese mit den damals neumodischen Kameras sein Ableben filmt. Der österreichische Schneider hatte einen Fallschirm erfunden, der sich beim Sprung vom Eiffelturm jedoch als untauglich – und tödlich – erwies.
Juri Steiner beschreibt Reichelts halsbrecherischen Versuch als «Rausch der Gefahr», der in jener Zeit Europa erfasst hatte. So wie eine «Faszination für Zivilisationsflucht», die sich in einer naiven Begeisterung für vermeintlich neue Völker und Kulturen zeigt: Sie werden durch Filme deutscher Forscher aus der «Südsee» wieder lebendig, die ethnologische Studien an Menschen in Neu-Guinea, von den Karolinen und Neupommern (heute Neubritannien) durchführten.
Solche Filme wie auch Fotos und Briefe ergänzen glänzende Exponate wie «La Bomba»: Der Alfa Romeo mit dem futuristischen Design von 1913 wird sicherlich ein Zugpferd der Ausstellung werden. «Dabei war er überhaupt nicht alltagstauglich: Die Abgase zogen ins Auto hinein», weiss Stefan Zweifel. In Serie ging das Prunkstück nie: Weil im Krieg Benzin fehlte, halbierte der adlige Erfinder kurzerhand sein Gefährt und nutzte es als Kutsche, berichtet der Kurator.
Technische Innovationen veränderten auch die Medizin rasant: Apparate wie alte Röntgengeräte oder Streckbänke muten heute aber eher wie Folterwerkzeuge an. Während so der Körper gesund gemacht werden sollte, stiess Sigmund Freud mit seiner Traumdeutung in den Bereich des Geistes vor.
Wie jene Zeit wahrgenommen wurde, zeigen auch die ausgestellten Gemälde: Picasso steckte 1910 noch in der frühkubistischen Phase, während Emil Nolde bunte Eingeborene malte und Max Pechsteins «Liegendes Mädchen» andeutet, dass sich auch das Verständnis von Erotik änderte. Nackte Tatsachen hat zudem ein Schweizer ins rechte Bild gerückt: Albert Meierhofers Fotos sind besonders, weil sie unverblümt Alltag zeigen. Zum Beispiel die Nacktwanderungen der Familie oder die Schwester des Hobbyfotografen, die psychisch krank war.
Fazit: Die Ausstellung ist klein, aber fein. Die Exponate geben dem Zuschauer einen Einblick in eine Welt, die parallel zu unserer ist und doch manchmal scheint, als sei sie von einem anderen Stern. Sie spricht alle Sinne an, wie nicht zuletzt auch der «Exit»-Raum zeigt. Hier landet der Besucher in einem dunklen Raum, in dem er Granatfeuer und Schüsse hört.
Der Gedanke dahinter: Im Schützengraben konnten die Soldaten auch nichts sehen. Was sich simpel anhört, beeindruckt einfach, wenn man es selbst erfährt.
«1900-1914. Expedition ins Glück» im Landesmuseum ist vom 28. März bis zum 13. Juli zu sehen. Die gleichnamige Begleitpublikation mit 100 Abbildungen ist 144 Seiten stark, kostet 39 Franken und ist jeden Rappen wert. Es gibt sie im Museumsshop oder im Buchhandel.
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Angesichts des sich zum 100. Mal jährenden Ausbruchs des Ersten Weltkrieges gibt es ausserdem noch andere interessante Online-Angebote zum Thema. Dank des Projekts Europeana sind tausende Originaldokumente verfügbar – Fotos, Filme, Postkarten und Briefe. Das ZDF bietet neben Ausschnitten aus eigenen TV-Dokumentationen auch Tagebücher von drei Soldaten, die Einsicht in das Alltagsleben geben.