1992 haben wir den EWR abgelehnt. Die Folge davon waren die bilateralen Verträge, eine Art EWR light, nur viel teurer und schlechter. Um die Jahrtausendwende haben wir ein Luftfahrtsabkommen mit Deutschland nicht unterschrieben, weil er angeblich unsere Souveränität untergraben hätte. Nun hat der Bundesrat einen Vertrag ausgehandelt, der weniger bringt und mehr kostet.
Im vergangenen Jahr hat der Nationalrat in einem Anfall von patriotischer Wallung die so genannte «Lex USA» verworfen. Diese Vereinbarung hätte dazu geführt, dass die leidige Steueraffäre mit den USA innerhalb eines Jahres abgewickelt worden wäre. Nun wird es länger dauern, und die Schweizer Banken wahrscheinlich ein paar hundert Millionen Franken mehr kosten.
Sind wir eigentlich masochistische Vollidioten? Nein, aber wir leiden unter zwei Dingen: einem geopolitischen Missverständnis und Grössenwahn. Zuerst zum Missverständnis.
Die Europa-Hasser zeichnen folgendes Bild der EU: Brüssel als einen gigantischer Moloch, der einzig an unserem Geld interessiert ist, uns die direkte Demokratie wegnehmen und generell schikanieren will. Die EU als ein straff von oben geführter, autoritärer Superstaat, in dem bösartige Technokraten im Verbund mit unfähigen Politikern einen Sozialstaat errichten wollen, der die Faulen belohnt und die tüchtigen Unternehmer bestraft.
Dieses Europa existiert nur in den Köpfen der Europa-Hasser. Wer heute zwischen Parma und Helsinki oder zwischen Prag und Paris unterwegs ist, erlebt das Gegenteil. Die kulturelle Vielfalt des alten Kontinents ist nach wie vor vorhanden, ja sie ist sogar auf dem Vormarsch. Die Schotten wollen sich von England abspalten, die Katalanen ihren eigenen Staat.
Dem Superstaat Europa gelingt es weder, die widerspenstigen Ungarn in den Griff zu bekommen, noch den Italienern ihren Willen aufzuzwingen. Wie könnte es auch? Die EU hat bekanntlich weder eine eigene Armee noch eine eigene Polizei. Selbst in Frankreich gilt nach wie vor das Bonmot von General de Gaulle: «Ein Land, das mehr als 200 Käsesorten hat, ist nicht zu regieren.» Und dabei gilt Frankreich als Hochburg des Zentralismus in Europa.
Mit besonderer Hingabe dreschen die Europa-Hasser auf den Euro ein. Die Einheitswährung sei die Ursache der hohen Staatsverschuldung und der grassierenden Jugendarbeitslosigkeit und werde Europa in den Ruin treiben, lautet die These.
Tatsächlich war der Euro vor seiner Einführung vor allem bei Ökonomen umstritten. Basierend auf der Theorie des optimalen Währungsraumes des kanadischen Nobelpreisträgers Robert Mundell wurde argumentiert, Europa sei noch nicht reif für den Euro. Die heutigen Schwierigkeiten in Euroland werden triumphierend als Bestätigung dieser These angeführt.
Das ist nicht ganz falsch, aber sehr einseitig. Der optimale Währungsraum hat nämlich einen kleinen Nachteil: Er existiert nur in der Theorie. In der Praxis gibt es keine optimalen Währungsräume. So sind die strukturellen Unterschiede der Wirtschaft der Kantone Jura und Zürich etwa gleich gross wie diejenigen zwischen Griechenland und Deutschland. Kein Mensch denkt daran, deswegen den Franken abzuschaffen.
Das gilt nicht nur für die kleine Schweiz, sondern auch für die grossen USA. Auch Bundesstaaten wie beispielsweise Kentucky und Kalifornien sind wirtschaftlich gesehen total unterschiedlich und haben dennoch den gemeinsamen Dollar.
Der Euro wurde nicht wegen ökonomischer Ignoranz der Politiker eingeführt, wie uns die Europa-Hasser glauben machen wollen. Es gab dafür praktische, handfeste Gründe. Nach dem Zerfall des Bretton-Woods-Abkommen zu Beginn der 1970er Jahre galt es, ein Währungschaos zu verhindern. Schon damals wurde mit dem so genannten Werner-Plan eine europäische Einheitswährung geprüft, konnte aber politisch nicht umgesetzt werden.
Daher entstand die «Währungsschlange» mit der D-Mark als Leitwährung. Will heissen: Alle wichtigen Währungen orientierten sich an der deutschen Bundesbank und ihrer Geldpolitik, die D-Mark war daher eine Art Vorläufer des Euro.
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Weltwirtschaft grundlegend verändert. Die Globalisierung hat neue Verhältnisse geschaffen, die wenig mit den Zuständen der Nachkriegszeit gemeinsam haben. International anerkannte Währungsexperten wie Barry Eichengreen befürworten daher ein Dreigespann von Dollar/Euro/Renminbi als globale Leitwährungen. Selbst konservative Ökonomen wie etwa Thomas Mayer, Ex-Chefökonom der Deutschen Bank, sind überzeugt, dass auch der Exportweltmeister Deutschland mit einer D-Mark auf der internationalen Bühne keine Chance mehr hätte und verweisen auf den Abstieg von Japan und des Yen.
Eine Rückkehr zu nationalen Währungen in Europa ist daher eine Illusion. Und eine gefährliche dazu. Kein Mensch weiss, wie dies praktisch zu bewerkstelligen ist, denn es wäre so, als ob man aus einer Omelette wieder Eier machen wollte.
Kommen wir zum Grössenwahn. Die Europa-Hasser malen ein idealisiertes Bild der Schweiz. Nun hat die Schweiz tatsächlich Vieles richtig gemacht. Mit der Bundesverfassung von 1848 – im wesentlichen von den USA übernommen – hat die Schweiz ein politisches System erhalten, das von Genies entworfen wurde, damit es auch von Idioten verwaltet werden kann. Das hat sich bewährt. Der eidgenössische Föderalismus mit seinen «Checks and Balances» ist bis heute die Basis unseres Wohlstandes.
Aber wir hatten auch sehr viel Glück. Der Kalte Krieg war so etwas wie ein langer, warmer Regen für die Schweiz. Vom Krieg unversehrt, wegen der Neutralität von allen geschätzt, konnte unsere Wirtschaft aufblühen wie im Treibhaus. Internationale Organisationen wie die Fifa liessen sich in der Schweiz nieder, das Bankgeheimnis wurde stillschweigend geduldet und über die weniger appetitlichen Aspekte unseres Verhaltens während der Nazizeit breiteten wir einen Mantel des Schweigens aus.
Mit dem Fall der Berliner Mauer hat dieses Idyll ein Ende gefunden. Heute geht es der Schweiz wie Nestlé. Auch der Nahrungsmittelkonzern hat mit Nespresso einen Hit lanciert und lange Zeit versucht, dieses Privileg zu verteidigen. Heute kennt auch die Konkurrenz das Geheimnis von Nespresso und die Gewinnmargen fallen.
Ähnlich wird auch die Schweiz kopiert, von Singapur beispielsweise, oder von Irland oder Dubai. Gleichzeitig besteht in der neuen Weltordnung kein Bedarf mehr für die neutrale Schweiz. Daher werden uns auch keine Privilegien mehr eingeräumt und geraten Bankgeheimnis und Steuerabkommen unter Dauerdruck. Daran sind weder die EU noch die Technokraten in Brüssel Schuld. Wir verdanken das den neuen Spielregeln einer globalisierten Weltwirtschaft. Darüber zu jammern, ist sinnlos.
Historisch gesehen ist die EU entstanden, weil Europa endlich Schluss machen wollte mit seiner entsetzlichen, kriegerischen Vergangenheit und nicht aus dem fehlgeleiteten Ehrgeiz einer inkompetenten und überbezahlten Classe politique, wie uns die Europa-Hasser glauben machen wollen. Natürlich hat sie Mängel, sehr viele und sehr gravierende sogar. Aber was Churchill schon von der Demokratie sagte, gilt auch für die EU: Sie ist ein miserables System, aber besser als alles andere.
Die Europa-Hasser können zwar stundenlang die Mängel der EU aufzählen. Aber was ist die Alternative? Eine Rückkehr zu den Nationalstaaten? Angesichts der europäischen Geschichte müssten wir verrückt sein, auch nur daran zu denken – gerade im hundertsten Gedenkjahr des Ersten Weltkrieges.
Nicht Brüssel und der Euro bedrohen heute Europa, sondern das Comeback des Nationalismus. Im vergangenen Jahrhundert hat er unsägliches Leid über Europa gebracht. Heute hebt er erneut sein hässliches Haupt. Politiker wie Marine le Pen und Geert Wilders wollen, dass der Euro scheitert und die Union auseinanderbricht.
Die Europa-Hasser in der Schweiz verfolgen ähnliche Ziele. Sie wollen die bilateralen Verträge platzen lassen und möchten es am liebsten machen wie der russische Diktator Wladimir Putin, der es der EU einmal so richtig gezeigt hat. Gerade deswegen können wir sie uns nicht mehr leisten.