Helena Rüegg: «Ich forsche nach Sehnsuchtsorten»

Helena Rüegg: «Ich forsche nach Sehnsuchtsorten»

01.09.2017, 11:08

Seit ihrer Kindheit lebt die Zürcher Musikerin, Schauspielerin und Autorin Helena Rüegg in aller Welt. Kürzlich ist sie für ein Konzert in ihre alte Heimat zurückgekehrt.

«Nur noch Stehplätze», rufen die Türsteher in die Reihe der Wartenden. Das Mehrzweckgebäude Winkel in Altdorf ist trotz dichter Bestuhlung innert Kürze gefüllt. Der Andrang zum Sonntag-Nachmittags-Konzert des 10. Alpentöne Festivals ist enorm.

Den Veranstaltern steht eine Mischung aus Freude und Überraschung in den Gesichtern. Auf der Bühne des umgenutzten Industriebaus werden zwar zwei im weitesten Sinne Einheimische erwartet: Saxofonist Albin Brun aus Luzern und Cellistin Kristina Brunner aus Thun, die im Gepäck je auch ein Schwizerörgeli haben.

Den iranischen Santurspieler Alireza Mortazavi aber kennen höchstens jene, die ihn schon am Vorabend in Altdorf gehört haben. Und den Namen der Bandleaderin am Bandoneon haben wohl alle erstmals im Programmheft gelesen. Helena Rüegg begrüsst die rappelvolle Halle auf Schweizerdeutsch, doch der leichte Hauch eines Akzentes unterstreicht ihr Bekenntnis: «Ich habe mich gefreut auf diese Rückkehr.»

Musikalische Mischungen

Beim Anstehen vor der Halle hatte man hören können, was die rund 250 Musikinteressierten zum Konzertgang bewogen hat. Helena Rüeggs Instrument wird ebenso oft genannt wie das Konzept ihres erstmals zu hörenden Quartetts, Schweizer Volksmusik und Liedgut mit exotischen Instrumenten zu spielen.

Das Publikumsinteresse wird belohnt. Rüegg und ihre drei exquisiten Partner siedeln ihre Adaptionen und Kompositionen in Mischbereichen an aus Archaik und Melancholie, Anklang und Exotik, aus Ländler und Tango, Musette und Jazz. Das Vreneli abem Guggisberg schicken sie samt Simes Hans-Joggeli nach Persien. «Chumm, mir wei ga Chriesli gwünne» erklingt in Moll, und beim E-Schottisch groovt nicht nur das Cello von Komponistin Brunner.

Worum es diesem eigenwillig aufspielenden Quartett geht, fasst Helena Rüegg in einer Zwischenansage zusammen. «Was ist Ferne, was ist Heimat? Diesen Fragen wollen wir wenn nicht mit Antworten, so doch mit Ahnungen begegnen.»

Bezug zu den Alpen

Sie forsche nach Sehnsuchtsorten, sagt Rüegg nach dem Konzert. Die heute 58-jährige Zürcherin ist seit ihrem dritten Lebensjahr Weltbürgerin. Ihre Familie zog damals nach Deutschland, wo Rüegg seither immer wieder lebte.

Dazwischen lagen Stationen wie Paris, Rotterdam und natürlich Buenos Aires, wo sie das Bandoneon studierte. «Als Kind war ich oft im Tessin, wo wir unsere Ferien verbrachten», betont sie aber und sagt zu ihrem Altdorfer Festivalauftritt: «Ich habe sehr wohl einen Bezug zu den Alpen.»

Auf den Fahrten ins Tessin habe der Vater jeweils Schweizer Volkslieder gesungen. Diese Erinnerungen habe sie zum Projekt «Fernweh» inspiriert, mit dem sie nach der gelungenen Uraufführung in Altdorf weitere Konzerte geben wolle.

Der Erfolg ihres Alpentöne-Auftrittes gründet nicht nur in der packenden Musik. Helena Rüegg nimmt ihr Publikum mit auf ihre Klangreisen, die auch Seelenreisen sind. «Ich bin ein Moll-Mensch», sagt sie etwa und weist darauf hin, dass Bandoneon und Schwizerörgeli nicht gleich gestimmt seien, sich sogar aneinander reiben: «Wir nennen diesen neuen Mischsound Bandörgeli.»

Reibungen, Mischungen und Grabensprünge: Helena Rüeggs Leben war und ist nie geradlinig. «Ich bin ein neugieriger Mensch und finde es langweilig, mich auf Bewährtem auszuruhen», erklärt sie. So habe sie auch zum Bandoneon gefunden, das meist von Männern gespielt wird.

Ursprünglich Schauspielerin mit Engagements an grossen deutschen Bühnen, verspürte Rüegg mit 32 den Wunsch, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. «Also zog ich ans andere Ende der Welt - nach Buenos Aires.»

Und dort begegnete sie jenem Instrument, das sie bis heute begleitet. Helena Rüegg gehörte lange hochkarätigen Tango-Ensembles an, bald aber improvisierte sie auch, was auf diesem ohnehin schwierigen Instrument nur Wenige wagen. Und nun spielt sie damit Schweizer Volkslieder.

Kreative Unruhe

Auf der Bühne sitzt Helena Rüegg mit dem Bandoneon auf den Knien. Hochkonzentriert wirkt sie dabei, doch niemals statisch. Ihre Augen sind in stetigem Kontakt mit ihren Mitmusikern, Spielpausen nutzt sie zu gestischer Untermalung, und zwischen den Stücken steht sie auf, spricht zum Publikum. Ihre kreative Unruhe führt dazu, dass Helena Rüegg nicht «nur» als Musikerin unterwegs ist. Sie schreibt Sachbücher und Romane, arbeitet als Radiojournalistin, gibt Kurse.

Natürlich habe sie eine Zugabe, versichert sie dem begeisterten Publikum in Altdorf, das seine Zufriedenheit über die Neuentdeckung einer Musikerin, einer irgendwie «Hiesigen» sogar, frenetisch in den Saal applaudiert.

Zudem werde sie wieder vermehrt in der Schweiz spielen. Nach dem Konzert im Altdorfer Winkel gibt sie noch ein TV-Interview. Dann ist sie weg. Verschwunden. Entflohen. Tags darauf meldet sich Helena Rüegg - per Mail - aus Barcelona. Nach Hause zurück reist sie irgendwann wieder. Ach ja: Zurzeit ist ihr Zuhause in Südfrankreich. (sda)

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