Für die Schweizer Frauen war 1959 ein trübes Jahr. Die Männer verweigerten ihnen in einer Volksabstimmung im Verhältnis 2:1 das Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene. Es war eine brutale Abfuhr für ein Anliegen, das seit Jahrzehnten gefordert und in fast der gesamten westlichen Welt und anderen Ländern längst realisiert worden war.
1971 erfolgte der zweite Anlauf, mit prozentual fast identischem Ergebnis. Nur dass es dieses Mal umgekehrt war: Das Frauenstimmrecht wurde klar angenommen. Im gleichen Jahr nahmen die ersten Frauen im National- und Ständerat Einsitz. In nur zwölf Jahren hatten die Schweizer Männer – zu einem erheblichen Teil die gleichen wie 1959 – ihre Meinung radikal geändert.
Wie lässt sich dieser Umschwung in einer halben Generation erklären?
Man geht kein Wagnis ein, wenn man die Erklärung im Jahrzehnt sucht, das zwischen den beiden Urnengängen lag. Die 1960er Jahre waren eine Epoche, in der die Gesellschaften der westlichen Hemisphäre einen radikalen Wandel erlebten. Was Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte lang galt, wurde innerhalb kurzer Zeit Makulatur. Als Höhepunkt dieser Entwicklung gilt das Jahr 1968.
Damals entlud sich der Frust der geburtenstarken Nachkriegsjugend über verknöcherte Institutionen und Denkweisen in weltweiten Protesten. «Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren» hiess es auf einem Transparent, das Hamburger Studenten im November 1967 enthüllten. Es wurde zu einem Slogan der 68er Bewegung, denn besser kann man die damalige Befindlichkeit kaum auf den Punkt bringen.
Paris wurde zu einem Epizentrum. Im Mai 1968 verbündeten sich Arbeiter und Studenten. Damals lag ein Hauch von Revolution in der Luft, ehe die Regierung von Präsident Charles de Gaulle die Kontrolle zurückgewinnen konnte. Ein Wortführer der Proteste war der deutschstämmige Daniel Cohn-Bendit, der bis heute als eine Art «Berufs-68er» durch die Talkshows tingelt.
Das ist eine zugegeben etwas bösartige Bezeichnung, doch sie zeigt auch, wie die damalige Bewegung die Nachwelt geprägt hat. Lange galten die «68er» in bürgerlichen Kreisen als Feindbild. 50 Jahre danach befinden sich die meisten von ihnen im Rentenalter, und der Blick auf die damalige Zeit ist fast schon durch Verklärung geprägt. Nur Christoph Blocher, der damals als Jus-Student auf der anderen Seite stand, arbeitet sich noch immer an den 68ern ab.
Sein Ideal sind die «heilen» 50er Jahre, in denen die Kirche im Dorf stand und der Mann in der Familie die Hosen an hatte. Doch schon in dieser spiessigen Dekade begann der geistige Aufbruch, der mit dem folgenden Jahrzehnt assoziiert wird. Am deutlichsten manifestierte er sich in den USA, durch die Beatniks, den Rock'n'Roll oder das Hollywood-Jugendidol James Dean.
Die Antibaby-Pille, die zum Synonym für die sexuelle Befreiung wurde, kam 1960 auf den Markt. In Europa wurde der Existentialismus zu einer prägenden Denkrichtung vieler junger Menschen, die im Nachkriegs-Wohlstand aufgewachsen waren und mehr aus ihrem Leben machen wollten als Arbeit, Familie und Folgsamkeit gegenüber politischen und religiösen Autoritäten.
Bob Dylan rief in seinem epochalen Song «The Times They Are A-Changing» von 1964 die Mütter und Väter auf, nicht zu kritisieren, was sie nicht verstehen, denn «your sons and your daughters are beyond your command» – eure Söhne und Töchter gehorchen euch nicht mehr. In Deutschland erhielt die Rebellion durch die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen der Elterngeneration eine besondere Komponente.
Man kann die 68er als Fortschreibung von Erneuerungsbewegungen wie Renaissance, Reformation und Aufklärung bezeichnen. Allerdings darf man die damalige Zeit nicht nur durch die rosarote Brille betrachten. Wer behauptet, die heutige Welt sei aus den Fugen geraten, hat keine Ahnung, wie gewalttätig gerade das Jahr 1968 war.
In den USA kamen Martin Luther King und Robert Kennedy durch Attentate ums Leben. Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke wurde von einem Rechtsextremen niedergeschossen. 1968 war auch das Jahr, in dem der Vietnamkrieg eskalierte und die Amerikaner im Dorf My Lai mit der Ermordung hunderter Zivilisten eines der schlimmsten Kriegsverbrechen ihrer Geschichte verübten.
Das Massaker mobilisierte die Antikriegsbewegung, unter dem Motto «Make Love Not War». Die sexuelle Freizügigkeit der «Blumenkinder» hatte allerdings ihre Kehrseite in der Verniedlichung oder gar Rechtfertigung von pädophilen Handlungen. Selbst Daniel Cohn-Bendit kam deswegen ins Zwielicht, obwohl es keinen Beweis gibt, dass er Übergriffe begangen hat.
Die Verherrlichung linker «Idole» wie Mao Zedong und Che Guevara wirkt im Rückblick befremdlich. Und mancher aufbegehrende Jugendliche verlor sich auf dem Irrweg des Linksterrorismus. Die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Roten Brigaden in Italien hielten den Kontinent in den 70er Jahren in Atem. Es war aber auch der 68er-Bewegung zu verdanken, dass Europa damals keinen Rückfall in autoritäre Zeiten erlebte.
Aus einem halben Jahrhundert Distanz überwiegen ganz eindeutig die positiven Folgen. Wir haben den 68ern ein zuvor ungeahntes Ausmass an persönlicher Freiheit zu verdanken. Galt früher die Devise «Alles ist verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist», so war es danach genau umgekehrt: «Alles ist erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist.» Und manchmal sogar das.
Profitiert davon haben in erster Linie die Frauen, nicht nur durch das Stimmrecht in der Schweiz, auch wenn dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, wie die aktuellen Debatten um #Metoo oder die unerreichte Lohngleichheit zeigen. Auch die gleichgeschlechtliche Liebe wurde in immer mehr Ländern nicht nur entkriminalisiert, sondern akzeptiert.
Heute können Homosexuelle in manchen Ländern heiraten, etwa in Irland, wo die katholische Kirche bis vor 20 Jahren fast allmächtig war. Im Zusammenleben zeigt sich die gesellschaftliche Öffnung besonders eindrücklich. Früher war die Ehe von Mann und Frau fast die einzige akzeptierte Art der Lebensgestaltung. Heute gibt es Beziehungsformen jeglicher Couleur.
Diese aus unserer Sicht sehr positive Entwicklung hat jedoch eine Kehrseite. In manchen Teilen der Welt wird der Westen gerade wegen der Akzeptanz der Homosexualität als dekadent verteufelt. Man kann den Aufschwung (rechts-)populistischer und autoritärer Strömungen der letzten Zeit auch als eine Art Backlash gegen die Errungenschaften der 68er interpretieren.
Die religiöse Rechte in den USA verbindet mit der Wahl von Donald Trump explizit die Hoffnung, Abtreibung und Homo-Ehe rückgängig machen zu können. In Osteuropa sind reaktionär-nationalistische Strömungen auf dem Vormarsch, besonders in Polen, Ungarn und in Russland. Dieser Teil des Kontinents befand sich damals hinter dem Eisernen Vorhang. Das Gedankengut der 68er konnte sich nicht festsetzen.
Eine Ausnahme war der Prager Frühling in der Tschechoslowakei. Er wurde von sowjetischen Panzern plattgewalzt. Der fehlende Respekt gegenüber der Rechtsstaatlichkeit und die Träume von einer «illiberalen» Demokratie verdeutlichen, dass die Idee der persönlichen Freiheit im Osten längst nicht so tief verankert ist wie im Westen. Und auch bei uns ist ein Backlash nicht auszuschliessen.
Es rächt sich nun, dass der 68er-Aufbruch weitgehend auf die «westlichen» Staaten beschränkt blieb. Er hat die Kluft zu anderen Teilen der Welt eher vergrössert. Und vielerorts – nicht zuletzt bei Islamisten – den Eindruck erweckt, der Westen sei schwach und verweichlicht. Gleichzeitig aber träumen überall auf der Welt junge Menschen von unseren Freiheitsrechten.
Man kann deshalb hoffen, dass die grösste Befreiungsbewegung der jüngeren Geschichte sich irgendwann global durchsetzen wird. Aber Garantien gibt es keine. Geschichte ist kein linearer Prozess, Rückschläge gibt es immer wieder. Umso mehr lohnt es sich, wachsam zu bleiben, gerade weil wir unsere Freiheitsrechte zu oft als Selbstverständlichkeit betrachten.
Ein wenig vom 68er-Kampfgeist würde im heutigen globalen Umfeld auch uns gut anstehen.