Bis tief ins 20. Jahrhundert wurden Kinder in der Schweiz misshandelt oder als Verdingkinder auf den Marktplätzen verkauft. Junge Schwangere wurden zum Abtreiben oder zur Weggabe ihres Kindes gezwungen. Menschen, deren Lebensweise nicht den gängigen Vorstellungen entsprach, wurden in Heime oder Gefängnisse gesteckt oder für Medikamententests missbraucht.
Opfer solcher fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen können seit Januar 2017 ein Gesuch beim Bundesamt für Justiz (BJ) einreichen und ihren Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag geltend machen. «Gegenwärtig nähert sich die Zahl der Gesuchseingänge beim BJ rasch der Schwelle von 1000 Gesuchen», sagt Reto Brand, Leiter des Fachbereich Fürsorgerische Zwangsmassnahmen auf Anfrage von watson.
Wie viele Personen Anspruch auf den Solidaritätsbeitrag geltend machen werden, ist unklar: «Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit der notwendigen Präzision abzuschätzen, ob die vom Bundesrat geschätzte Bandbreite dereinst erreicht werden wird oder nicht», sagt Brand. In seiner Botschaft an das Parlament ging der Bundesrat von 12'000-15'000 Personen aus, welche ein Gesuch stellen werden. Insgesamt stehen 300 Millionen Schweizerfranken für die Solidaritätsbeiträge zur Verfügung. Da alle Opfer den gleichen Betrag erhalten sollen, wird dieser maximal 25'000 Franken betragen.
Direktbetroffene müssen ein Gesuch beim BJ einreichen und glaubhaft machen, dass sie Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung wurden. «Ein strikter Beweis im Rechtssinn ist nicht nötig – und könnte in den meisten Fällen wohl auch nicht geführt werden. Weil die Ereignisse zeitlich so lange her sind, reicht es, wenn die gesuchsstellenden Personen ihre Opfereigenschaft lediglich glaubhaft machen», sagt Brand. Für die Beschaffung von Dokumenten aus Archiven, aber auch für grundsätzliche Beratung kann weiter die Hilfe der kantonalen Anlaufstellen in Anspruch genommen werden.