Sie sind ein
Superforecaster. Ich vermute, Sie haben Donald Trumps Wahlsieg
vorhergesehen.
Regina Joseph: Wir sind keine
Roboter, sondern Menschen. Auch wir können falsch liegen. Ich bin in
New York aufgewachsen und mit Trump seit langem vertraut. Es gibt
einen Grund, warum er weder in der Stadt noch im Staat New York
gewonnen hat. Niemand in New York nimmt Trump ernst, man verachtet
ihn. Warum sollte ihn sonst jemand ernst nehmen? Ich habe meine
Vorurteile in meine Prognosen einfliessen lassen und bin dadurch
meinen eigenen Kriterien nicht gerecht geworden.
Sie haben also
auf einen Clinton-Sieg getippt?
Bis kurz vor der
Wahl ging ich zu 95 Prozent davon aus, dass Hillary Clinton gewinnen
wird. Dann tauchten die E-Mails aus dem Laptop des ehemaligen
Kongressabgeordneten Anthony Weiner auf, und ich habe diesen Wert
deutlich nach unten korrigiert. Ich wusste nicht, ob sie das
überleben wird. Trotzdem war meine Trefferquote miserabel.
Haben Sie daraus
Lehren gezogen?
Ich werde den Fehler
nicht wiederholen, mein Urteilsvermögen durch Vorurteile vernebeln
zu lassen. Das ist wichtig in diesem Jahr, in dem viele Wahlen stattfinden: In den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, in
Hongkong und Iran.
Immerhin haben so
ziemlich alle Meinungsforscher und Prognostiker Trumps Wahlsieg nicht
für möglich gehalten.
Mein
US-Geschäftspartner und ich wollten herausfinden, wer am wenigsten
daneben lag. Interessanterweise waren es Vorhersagen, die auf
Crowdsourcing basierten. Wer sich nur auf Nate Silver und ähnliche
Auguren verlässt, erreicht nicht die gleiche Qualität wie jene
Prognostiker, die unterschiedliche Ideen und Gedanken
berücksichtigen.
Können Sie das
näher erläutern?
Diese Woche findet
das World Economic Forum in Davos statt. Viele renommierte Analysten
und Meinungsmacher nehmen daran teil. Diese «Davos-Gurus» beeinflussen die Entscheide von Unternehmen. Sie werden so gut wie
nie für ihre Prognosen zur Rechenschaft gezogen. Dabei weiss man,
dass diese «Experten» in ihren Einschätzungen der geopolitischen
Entwicklungen kaum treffsicherer sind als ein Schimpanse, der Pfeile
auf eine Dartscheibe wirft.
Wie kann man die
Treffsicherheit verbessern?
Unser Bildungssystem
bevorzugt das Nischendenken, das Expertenwissen. Das ist kein ideales
Modell in einem Informationszeitalter. Man muss verschiedene
Teilgebiete, etwa die politischen Wissenschaften, durch ein
übergeordnetes generelles Wissen miteinander verbinden. Ein grosser
Teil meiner Arbeit besteht darin, die Leute entsprechend auszubilden.
Man kann diese Fähigkeit «heranzüchten».
Wie wird man zu
einem Superprognostiker?
Wir Superforecaster unterscheiden uns
im Stil, haben aber ähnliche kognitive Fähigkeiten. Wir geniessen
herausforderndes Denken. Wir sind neugierig und erfreuen uns an
Nuancen. Die Welt ist nicht schwarzweiss. Die meisten Menschen aber
haben nicht die Geduld, um differenziert zu denken. Wir wollen es
ihnen beibringen. Die entscheidende Frage lautet: Wie können wir uns
fit machen für das digitale Informationszeitalter? Derzeit leisten
wir in diesem Bereich keine sehr gute Arbeit.
Das müssen Sie
erklären.
Es gibt ein Zitat des Komikers Bill Maher: «Die Wahrheit ist tot,
und das Internet hat sie umgebracht.» Wir leben in diesem
Albtraum-Szenario, in dem jeder seine eigenen Fakten und seine
Wahrheit hat. Für die Demokratie ist dies eine sehr gefährliche
Entwicklung.
Was bringt Sie zu
dieser Überzeugung?
Demokratien können
nur mit einer informierten Bevölkerung überleben. Die Technologie
aber hat die Art verändert, wie wir uns informieren. Vor dem
Internet gab es vier Hauptquellen: Zeitungen, Magazine, Fernsehen und
Radio. Man sass nach Feierabend gemeinsam vor dem Fernseher und
schaute die Nachrichten. Heute «informieren» sich die Leute auf
Twitter. Wenn man aber TV-News von glaubwürdigen Sendeanstalten mit
irgendwelchen Tweets gleichsetzt, öffnet man eine sehr gefährliche
Büchse der Pandora. In dieser Lage befinden wir uns heute.
Daraus entstehen
die viel zitierten Filterblasen.
Wer Netflix nutzt,
erhält vom Algorithmus Vorschläge für Inhalte, die man angeblich
gerne sehen würde. So wird die Neugierde und die Entdeckerfreude aus
dem Leben verdrängt. Technologie fördert die Faulheit, sie lässt
jenen Teil des Gehirns verkümmern, der Dinge ausprobieren und
experimentieren will. Daraus entstehen diese Blasen. Wenn man aber
immer die gleiche Nahrung zu sich nimmt, lebt man nicht sehr gesund.
Genau gleich ist es mit Informationen.
Könnte dies die
liberale Demokratie gefährden?
Die Gefahr ist real,
dass wir uns auf ein dunkles Zeitalter zubewegen. Als 1995 der erste
Internet-Browser verfügbar war, schwärmten die Meinungsmacher von
einer grossartigen Zukunft, in der alle Menschen miteinander
verknüpft sein werden. So ist es nicht gekommen. Der erleichterte
Zugang hat vielmehr dazu geführt, dass Informationen entwertet
wurden. Klassische Medien, die viel Geld für qualitativ guten
Journalismus ausgeben, verlieren ihre Geschäftsgrundlage. Wenn wir
aber nur noch minderwertige Informationen aufnehmen, dann verdummen
wir.
Könnte hier eine Chance für die klassischen Medien liegen? Nach der
Trump-Wahl verzeichnete die «New York Times» deutlich mehr
Abos.
Sie hat rund 80'000
neue Leser gewonnen. Das ist nicht genug. Entscheidend ist, dass sich
die Gewohnheiten der Millenials oder Generation Z ändern. Wir nähern
uns einem bedeutenden demografischen Wandel. Bereits in drei Jahren
wird die Hälfte der Arbeitskräfte in den USA aus Millenials
bestehen. Heute sind noch die Babyboomer und die Generation X an den
Schalthebeln der Macht. Das sind keine Digital Natives, sie sind mit
den Fernsehnachrichten aufwachsen. Die Jungen haben einen ganz
anderes Verhältnis zur Technologie und zur Informationsvermittlung.
Wie soll man
darauf reagieren?
Wir müssen den
jungen Leuten beibringen, dass ihr Umgang mit Informationen sie nur
negativ beeinflussen wird. Sie finden Twitter und Snapchat toll und
denken, sie könnten ihre News von Facebook beziehen. Es ist sehr
schwierig, sie davon abzubringen, denn die Medienunternehmen sind
heute selber von Facebook und ähnlichen Kanälen abhängig, um
überleben zu können. Es ist ein Teufelskreis. Die Verfügbarkeit von Informationen ist Fluch und Segen zugleich. Es ist das Paradox des dunklen Internet-Zeitalters. Darum
fürchte ich um die Zukunft.
Malen Sie damit
nicht allzu schwarz?
Die Gründervater
der USA haben im 18. Jahrhundert die Bedeutung der Medien als vierte
Macht im Staat erkannt. Sie wussten, dass es zum Wesen der Demokratie
gehört, dass man den Mächtigen auf die Finger schaut. Wenn dies
verloren geht, bleibt nicht viel von der Demokratie übrig. Leider
bewegen wir uns darauf zu, und zu einem gewissen Grad sind wir
bereits dort angelangt. Es könnte schon zu spät sein.
Eine
erschreckende Aussage.
Ich sage nicht, dass
es so ist, aber die Möglichkeit besteht. Während des Kalten Krieges
drehte sich alles um Ideologie: Kapitalismus gegen Kommunismus. Heute sind wir in einem neuen Kalten Krieg, der sich nicht auf Cyberspionage
beschränkt. Es geht darum, wer Informationen kontrolliert. Ist es
der Staat, oder sind es die Menschen? China, Russland, die Türkei,
viele Länder in Afrika und Asien haben eine Vorstellung davon, die
sich grundlegend von jener im Westen unterschiedet. Zumindest noch. Andernfalls haben wir ein Problem.
Sehen Sie eine
Möglichkeit, diese Entwicklung abzuwenden?
Die Menschen
fürchten sich davor, wie Technologien ihr Leben verändern. Die
Unternehmen im Silicon Valley schildern eine Techno-Utopie mit
unzähligen Möglichkeiten, in der alles grossartig ist. Die Realität
vieler Menschen sieht so aus, dass abends nach Hause kommen, bis
Mitternacht weiter E-Mails beantworten müssen und ständig Anrufe
erhalten. Darum haben die Franzosen zu Beginn des Jahres ein Gesetz
erlassen, das den Menschen das Recht gibt, nach Arbeitsschluss
abzuschalten. Man wird sehen, ob andere Länder diesem Beispiel
folgen werden.
Könnte das einen
Ausweg aus der Misere aufzeigen?
Es würde der
Gesundheit und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen. Leider
sprechen die finanziellen Mechanismen dagegen. Es gibt keine
entsprechenden Anreize für die Konzerne im Silicon Valley. Als Mark
Zuckerberg beschuldigt wurde, er habe mit Fake News auf Facebook die
Wahlen beeinflusst, bezeichnete er dies als ziemlich verrückte
Vorstellung. Nicht einmal er will die Fakten zur Kenntnis nehmen!
Deshalb leben wir in einem Postwahrheits-Zeitalter, und deshalb kann
ein charismatischer Typ wie Donald Trump den Leuten das sagen, was
sie hören wollen.
Nicht alle
Menschen lassen sich davon blenden.
Wer für logische
Argumente empfänglich ist, fällt nicht darauf herein. Aber es gibt
eben auch Menschen, die sich von oberflächlichen Dingen beeinflussen
lassen. Trump ist mächtig, er sieht erfolgreich aus, also glaube ich
ihm. Die Autorin Fran Lebowitz hat das sehr schön umschrieben:
Donald Trump ist die Vorstellung eines armen Menschen, wie ein
reicher Mensch aussieht.
Haben Sie über
die möglichen Folgen einer Trump-Präsidentschaft nachgedacht?
Ich denke jeden Tag
darüber nach (lacht). Es ist möglich, dass sich die USA in Richtung
einer illiberalen Demokratie bewegen werden. Trumps Rhetorik ist
rückwärtsgewandt. Viele Menschen sind dafür
empfänglich, weil sie vereinfachend ist, frei von Nuancen. Sie
wollen keine komplexen Fragen, weil sie nicht die Geduld und die
Veranlagung besitzen, um damit umzugehen. Darum ist Trump sehr
populär.
Seine
Beliebtheitswerte aber sind miserabel.
Viele erkennen, dass
die von ihm ausgesandten Signale destruktiv und besorgniserregend
sind. Trump hat mehr Gegner als Anhänger, das zeigt auch die
Gesamtzahl der Wählerstimmen.
Man spricht schon
von einem möglichen Impeachment.
Das wird sich
zeigen. Vieles hängt vom politischen Willen ab.
Was denken Sie
über eine mögliche Allianz mit Russland? Die Signale sind
unterschiedlich.
Mehrere Kandidaten
für einen Kabinettsposten sagten in den Hearings vor dem Kongress
das Gegenteil von dem, was Trump behauptet. Er erwidert darauf, dies
sei gut, er wolle, dass seine Minister ihm widersprechen. Ich weiss
nicht, was das bedeuten soll. Er redet wie ein Geschäftsmann, aber
eine Regierung funktioniert anders als ein Unternehmen. Wie wirkt es
auf die Aussenwelt, wenn ein Präsident und ein Minister
gegensätzliche Dinge verkünden?
Wie beim Thema
Globalisierung?
Trump hat
angekündigt, dass er die Freihandelsabkommen Nafta und TPP
zerreissen will. Ob er das tun wird, wissen wir nicht. Einige
seiner Kabinettsmitglieder widersprechen ihm. Er hat auch erklärt,
er wolle Hillary Clinton ins Gefängnis stecken, und später
zugegeben, dass er das nur gesagt hat, um gewählt zu werden. Es ist
nicht klar, was geschehen wird.
Sie haben es
erwähnt, 2017 finden in Europa wichtige Wahlen statt. Was ist zu
erwarten?
Viele Menschen sind
sehr nervös (lacht). Donald Trumps Behauptung, dass Grossbritannien
nur das erste Land sein wird, das die EU verlässt, hat sie
verängstigt. Es gibt Kräfte innerhalb der EU, die ihren Zerfall
begrüssen würden. Hinter den Kulissen arbeiten die Russen daran. Sie sind gegen NATO und EU und würden nichts
lieber sehen als deren Kollaps. Sie betrachten diese Strukturen als
Sicherheitsrisiko.
Es gibt also eine
Tendenz zur Renationalisierung in Europa?
Wir sehen sie
bereits. Ob dies zur Auflösung der EU führen wird, steht nicht
fest. Der Brexit zeigt, dass es nicht so einfach ist, die EU zu
verlassen. Es könnte aber zu Unruhen kommen. Ich bin extrem besorgt
über die Lage auf dem Balkan und im Baltikum. Es gibt dunkle Kräfte,
die darauf hinstreben, die Nachkriegs-Weltordnung aufzubrechen. Auf
der anderen Seite untergraben die neuen Technologien die Idee des
Nationalstaats. Wozu braucht man ihn, wenn man alles online erledigen
kann? Die Idee des
Nationalstaats ist nicht mehr unbestritten, und das gibt gewissen
Populisten Auftrieb.