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Das Interview von FCB-Fan Rolf Bantle: Im San Siro verloren

Rolf Bantle im «Stübli» des Alterszentrums Lamm an der Basler Rebgasse.
Rolf Bantle im «Stübli» des Alterszentrums Lamm an der Basler Rebgasse.
maurice thiriet

Verschollener FCB-Fan: «Dass ich überhaupt nichts hatte, überhaupt kein Geld und nichts zu essen, das kam selten vor»

Rolf Bantle (71) galt elf Jahre als «verschollen», weil er nach einem FCB-Match im San Siro in Mailand geblieben war. Verschollen zu sein, war ihm aber ganz recht. Ein Gespräch über sein Leben in Schweizer Heimen, sein neues Leben in Mailand und das Wiedersehen mit seinem langjährigen Vormund. 
04.11.2015, 09:1004.11.2015, 09:11
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Herr Bantle, was ist da genau passiert vor elf Jahren im San Siro Stadion?
Die Geschichte kennen Sie ja aus der «Schweiz am Sonntag». Wir sind vom Wohn-/Werkheim Dietisberg (BL) nach Mailand gefahren an einen Match: FCB – Inter. Kurz vor Schluss musste ich aufs WC, fand den Rückweg nicht mehr, fand auch den richtigen Car nicht mehr. Also blieb und lebte ich dann in Italien.

Das ist die Kurzversion Ihrer verrückten Geschichte. Sie waren aber insgesamt elf Jahre in Italien. Was haben Sie da gemacht?
Nicht viel. Ich habe Leute kennengelernt, wie es so ist. Die haben ja eine andere Mentalität, die Italiener.

Wo haben Sie denn gelebt?
Schon die meiste Zeit draussen. Ich hatte eine Wolldecke und einen Schlafsack. Ich habe nie an den Ranzen gefroren, auf Deutsch gesagt. Ein Kissen hatte ich auch. Ich habe mir eins gebastelt aus einem Schwimmsack.

«Dann hat sie ein bisschen telefoniert, ist wieder aus dem Auto ausgestiegen und hat gesagt: «Va bene, Arrivederci!»

Also haben Sie elf Jahre lang von der Hand in den Mund gelebt.
Ja, das ist elf Jahre ganz gut gegangen, bis zum Unfall. Ich brach mir den Oberschenkel auf der rechten Seite und kam ins Spital. Die haben gesagt, ich solle zurück in die Schweiz, das sei schon alleine vom Finanziellen her besser. Vom Schweizer Konsulat kam dann eine Frau, die hat das organisiert. Ich bin dann also statt mit dem Car mit dem Krankenwagen zurück nach Basel gefahren.

Elf Jahre später.
Ja. Es ist mir ja nicht schlecht gegangen in Italien. In dem Vorort von Mailand, Baggio, fand ich bald Freunde. Zumeist Studentinnen und Studenten, die ich in der Bibliothek kennengelernt hatte. Sie unterstützten mich immer mit Geld. Mal hier fünf Euro, mal da etwas zu essen oder ein Glas Wein. Dass ich überhaupt nichts hatte, überhaupt kein Geld und nichts zu essen, das kam selten vor. Vielleicht drei, vier Mal in den ganzen elf Jahren.

Ihr Fall tönt auch ein bisschen wie eine Flucht. Hat es Ihnen nicht gefallen im Heim in Dietisberg?
Nein, das Heim hat mir nicht gefallen. Man konnte dort leben, war aber total gebunden. Man durfte nur am Wochenende raus und mit dem Alkohol war es auch ein Problem. Man durfte keinen Alkohol reinnehmen und drinnen nicht zu viel trinken. Das ist auch kontrolliert worden und unter der Woche durfte man eigentlich gar nichts. Um fünf Uhr nachmittags durfte man jeweils ein bisschen Fernsehen schauen. Aber man war einfach nicht frei. Jetzt bin ich frei. Hier bin ich frei, kann rein und raus, wie ich will. Nur vom Essen muss ich mich abmelden.

War es Ihnen also ein bisschen egal, dass Sie den Bus verpasst haben? Kam Ihnen das gerade recht?
Ja. Irgendwie schon.

Hat man Sie nicht gesucht?
Das weiss ich nicht. Ich nehme an, dass die in Dietisberg ein bisschen gewartet haben und dann in Basel bei der Vormundschaftsbehörde angerufen haben. Aber wenn man nichts auf dem Kerbholz hat, dann suchen die einen doch nicht. Viel zu teuer. Interpol jedenfalls hat mich nie gesucht. Ein einziges Mal bin ich von einer Polizistin kontrolliert worden an dem Platz in Baggio, wo ich immer gesessen habe. Der habe ich die ganze Geschichte erzählt und auch gesagt, wie lange ich schon in Italien sei und dass ich keinen Ausweis habe. Dann hat sie ein bisschen telefoniert, ist wieder aus dem Auto ausgestiegen und hat gesagt: «Va bene, arrivederci!»

«Ganz frei war ich eigentlich nie. Wenn ich irgendwo eine Stelle hatte, dann hat der Vormund gesagt, wie viel Sackgeld ich kriegen soll jede Woche.»

Wie lange waren Sie eigentlich in dem Wohn-/Werkheim Dietisberg?
Da war ich sicher zehn Jahre.

Und davor?
Immer an verschiedenen Orten. In der Gastronomie habe ich gearbeitet, in Hotels. Es ist einfach nirgends gegangen. Oder jedenfalls nicht lange.

Weshalb?
Ich weiss doch auch nicht. Immer war irgendwas. Entweder hat es mir nicht gefallen, oder die Leute haben dauernd rumgemäkelt. So ist das ziemlich lange gegangen. Jedenfalls hiess es dann eines Tages: «So, jetzt gehst du da rauf, das geht jetzt so nicht weiter». Machen konnte ich da nichts.

Weshalb nicht?
Wegen der Amtsvormundschaft. Das gibt es heute ja alles nicht mehr, aber damals hatte ich zu meinem Leben eigentlich nichts zu sagen, das hat jeweils alles der Vormund befohlen. Ganz frei war ich eigentlich nie. Wenn ich irgendwo eine Stelle hatte, dann hat der Vormund gesagt, wie viel Sackgeld ich kriegen soll jede Woche. Den ganzen Lohn habe ich nie gekriegt, das ging alles an die Behörde.

Sie sind ja bei einer Pflegefamilie aufgewachsen …
Ja, in der Stadt Bern.

Und seither waren Sie nie ohne Heim oder Vormundschaft?
Nein. Eigentlich nicht. Nach der Schule kam ich nach Albisbrunn in die Knabenerziehungsanstalt, das ist in Zürich in Hausen am Albis. Dort war ich dann bis ich volljährig war. Und dann fing es an. Ich hatte einfach immer verschiedene Stellen im Gastrobereich. Als Nachtportier habe ich gerne gearbeitet, selten auf dem Bau und etwa fünf Jahre auf einem Bauernhof in Fischbach im Luzerner Hinterland. Bei Zell rechts rauf. Aber wie gesagt: Frei war ich nie. Ich hatte immer nur Sackgeld und dort gewohnt, wo ich gerade gearbeitet habe.

«Ich sass hier im Stübli und erkannte ihn nicht nach so vielen Jahren. Aber die Stimme kam mir bekannt vor.»

Und wo ist das ganze Geld?
Das weiss ich auch nicht. Das hat die Vormundschaftsbehörde gekriegt, glaube ich. Aber jetzt ist ja alles geregelt. Das Sozialamt hat das jetzt für mich alles organisiert, dass ich hier wohnen kann. Hier ist es gut. Morgens kann ich von neun bis elf Uhr der Hauswartin im Garten helfen, danach gibt es essen und am Nachmittag Programm.

Haben Sie denn Ihren Vormund wieder einmal gesehen seit Ihrer Rückkehr?
Ja. Er ist einmal gekommen, ganz am Anfang als ich hier war. Aber per Zufall, er hat wohl jemand anderen besucht und hat dann mitgekriegt, dass der Bantle wieder zurück sei. Und dann taucht er plötzlich hier auf. Ich sass hier im Stübli und erkannte ihn nicht nach so vielen Jahren. Aber die Stimme kam mir bekannt vor. Dann haben wir einen Kaffee getrunken hier.

Hatte er Freude, Sie wieder zu sehen?
Jaja.

Hatten Sie Freude, ihn wieder zu sehen?
Nein.

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7 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Papa Swappa
03.11.2015 09:14registriert September 2015
wow, er zog die freiheit der sicherheit vor, der man verdient meinen respekt!
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Calvin Whatison
03.11.2015 09:09registriert Juli 2015
diese 10 Jahre in Italien, müssen die schönsten seines Lebens gewesen sein. Was für eine tolle Geschichte... Zufrieden, Einfach, sympathisch der Herr... wünsche Herr Bantle einen schönen Lebensabend und gute Gesundheit. ;-)
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Wilhelm Dingo
03.11.2015 08:39registriert Dezember 2014
Mann ist das eine berührende Geschichte. Schön wie er die Italiener beschreibt.
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