Fürchterlich. Der italienische Staat, die Europäische Union, die Hilfsorganisationen – wir alle sind schlichtweg überfordert. Haben wir ein Problem gelöst, taucht bereits das nächste auf. In den letzten Tagen sind über 3000 Flüchtlinge – unter anderem auch aus Syrien – an den italienischen Küsten gelandet. Sie werden verpflegt und medizinisch versorgt. Glauben Sie mir: Wir machen, was wir können. Dass dies nicht genügt, ist uns bewusst. Dennoch: es gibt auch Gutes zu berichten.
Zum Beispiel?
Wir lassen die Flüchtlinge nicht mehr ertrinken. Die italienische Marine hat die Bergung von Flüchtlingen auf hoher See intensiviert. Nachdem im Herbst 2013 binnen weniger Tage 400 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, wurde die Operation ‹Mare Nostrum› ins Leben gerufen. Die Marine ist mit vier Schiffen im Einsatz. Daneben beteiligen sich auch das italienische Heer, die Luftwaffe, die Carabinieri, der Zoll und die Küstenwache an der Operation. In der Vergangenheit fühlte sich niemand verantwortlich für die Flüchtlingsboote, die von Schlepperbanden organisiert wurden, meist in einem desolaten Zustand waren, vor den italienischen Küsten sanken und so viele Todesopfer forderten.
Die Operation «Mare Nostrum» ist in Ihren Augen also ein Erfolg?
Ein Erfolg? Die Situation hat sich zumindest verbessert. Um das zu verstehen, müssen wir ein paar Jahre zurückblicken. Als der libysche Diktator Gaddafi noch mit eiserner Faust regierte, ein guter Freund des ehemaligen italienischen Präsidenten Silvio Berlusconi notabene, existierte ein Deal zwischen den beiden Ländern: Libyen hielt die Flüchtlinge zurück, während Italien dem Regime zusicherte, in dessen Infrastruktur zu investieren. Quid pro quo. Dieser Deal funktionierte lange Zeit gut, nicht für die Flüchtlinge, aber für die beiden Länder.
Bis zum Sturz des Regimes.
Nach dem Tod Gaddafis geriet die Situation ausser Kontrolle. Libyen fiel auseinander. Die Migration über das zentrale Mittelmeer nahem wieder zu. Weder Italien noch Libyen fühlten sich zuständig. Und nach den vielen Todesopfern auf hoher See mussten wir handeln. Die Operation ‹Mare Nostrum› hat etlichen Flüchtlingen das Leben gerettet.
Wie ist die Situation auf dem italienischen Festland?
Chaotisch, und hier kommen wir zur Kehrseite der Medaille. Italien will die Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder loswerden. Die Politik hat den Staat zu einem einzigen grossen Durchgangszentrum gemacht.
Und nicht registriert.
Jeder Flüchtling, der in einem Staat der Europäischen Union ankommt, muss seinen Fingerabdruck abgeben. So will es das Dubliner Übereinkommen. Damit soll verhindert werden, dass Migranten an mehreren Stellen Asyl beantragen können. Italien, wo täglich Hunderte Flüchtlinge aus Nordafrika ankommen, nimmt es mit der Umsetzung der EU-Direktive allerdings nicht ganz so ernst. Das hilft den Flüchtlingen, einfacher an ihr eigentliches Ziel zu kommen: In den meisten Fällen ist das Deutschland oder Schweden. Es hört sich zynisch an, aber das System funktioniert vor allem für syrische Flüchtlinge hervorragend.
Die syrischen Flüchtlinge, so sagen auch Angestellte verschiedener Hilfswerke, profitieren davon, dass die italienischen Behörden wegschauen. Wo liegt der Unterschied zum Beispiel zu Eriträern oder Libyern?
Der syrische Bürgerkrieg hat zu einem Familien-Exodus geführt. Die Flüchtlinge sind meist in einem Familienverband unterwegs, sie sind gebildet und verfügen über bessere finanzielle Mittel.
Gibt es eine Typologie syrischer Flüchtlinge?
Absolut. Man kann sie quasi in drei Gruppen einteilen, ohne despektierlich zu sein. Nämlich solche, die in Flüchtlingscamps in Jordanien, der Türkei oder im Libanon leben ohne jegliche finanziellen Mittel. Sie sind die ärmsten und angewiesen auf internationale Hilfe. Die zweite Gruppe lebt ausserhalb der Flüchtlingscamps in privaten Wohnungen, kann sich selbst versorgen und hofft auf eine baldige Rückkehr in ihr Heimatland.
Die dritte Gruppe?
Sie landet am Mailänder Bahnhof und ist mit einigen Ausnahmen die reichste Gruppe. Bis zu 20'000 Dollar werfen die Familien auf, um nach Europa zu gelangen. Sie verfügen über entsprechende finanzielle Mittel Schlepper zu bezahlen, ihr Ziel ist Nordeuropa – eine Rückkehr nicht vorgesehen.
Internationale Schlepper-Netzwerke setzen Flüchtlinge einem enormen Risiko aus und kassieren ab. Was tut die italienische Regierung dagegen?
Wir sprechen hier von Millionen, wenn nicht Milliarden, die umgesetzt werden. Ein riesiges Geschäft. Natürlich wissen die Behörden um dieses Problem, schauen aber zugleich elegant weg. Das ist jedoch nicht ein rein italienisches Problem.
Das heisst?
Das Problem ist eine nicht existente europäische Flüchtlingspolitik. Es existiert keine gemeinsame Politik, wie mit dem Flüchtlingsstrom umgegangen werden soll. Der einzige Konsens, der bislang gefunden wurde, ist, dass niemand mit den Flüchtlingen etwas zu tun haben will. Darin sind sich alle einig. Um dieser humanitären Katastrophe wenigstens im Ansatz beizukommen, braucht es eine bessere Zusammenarbeit. Eine solche ist jedoch nicht abzusehen.
Die europäische Politik als perfekter Nährboden für Schlepperbanden?
Die Flüchtlinge werden von der europäischen Politik richtiggehend dazu genötigt, die Dienste krimineller Organisationen in Anspruch zu nehmen. Mein Gott, die Flüchtlinge sind dem Tod von der Schippe gesprungen. Diese Menschen haben doch keine Angst davor, europäische Gesetze zu brechen, um ein besseres Leben führen zu können.