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In der Schweiz steigt die Nachfrage nach Exorzismus. Alles Quatsch? Dann sehen und hören Sie den Fall der Anneliese Michel

Erschreckend nah an der Realität: Jennifer Carpenter als Emily Rose.
Erschreckend nah an der Realität: Jennifer Carpenter als Emily Rose.Bild: From the Balcony
Realer Horror

In der Schweiz steigt die Nachfrage nach Exorzismus. Alles Quatsch? Dann sehen und hören Sie den Fall der Anneliese Michel

26.05.2014, 20:1023.06.2014, 13:53
Oliver Baroni
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Im Bistum Lugano gibt es jeden Tag Anfragen zum Thema Exorzismus. Auch im Bistum Chur verrichten gegenwärtig mehrere Priester den «Befreiungsdienst», wie es offiziell heisst. Erst vor Kurzem sind zwei neu dazugekommen, wie Domherr Christoph Casetti im SonntagsBlick bestätigte. «Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem», so Cesare Truqui, Priester und Exorzist aus Samedan GR. «Etwa fünf Prozent der Menschen, die sich an mich wenden, sind tatsächlich besessen.» «Das Leid dieser Menschen ist ungeheuer gross, deshalb muss man ihnen helfen», so Casetti, «manchmal muss man jahrelang beten».

Manchmal genügt beten nicht: Am 1. Juli 1976, nach insgesamt 67 Exorzismen, die während zehn Monaten durchgeführt wurden, starb die deutsche Studentin Anneliese Michel an Unterernährung und Entkräftung. 

Die junge Studentin Anneliese Michel.
Die junge Studentin Anneliese Michel.Bild: WikiCommons

Sie war 23. 

Der Fall des Exorzismus der Anneliese Michel gilt als einer der bekanntesten weltweit. Dies nicht nur aufgrund der unglaublichen Tragik des Falles, sondern weil es sich um eine junge Frau im Westeuropa der Siebzigerjahren handelt. Wie konnte es geschehen, dass man keinen Notarzt herbeizog und sich stattdessen auf ein kirchliches Ritual aus dem Jahr 1614 verliess? 

Die wahren Begebenheiten um den Tod von Anneliese Michel sind die Vorlage zu mehreren Verfilmungen. Unter anderem «The Exorcism of Emily Rose» (2005), «Requiem» (2006) oder «Anneliese: The Exorcist Tapes».

Anneliese Michel entstammte einem streng katholischen Elternhaus im ländlichen Klingenberg am Main in Bayern. Der Vater war Bauhandwerker, die Mutter Hausfrau. Anneliese galt als hochintelligente und begabte Schülerin und besuchte ab der sechsten Klasse das Gymnasium. Als Teenager fiel sie wegen nervlicher Probleme auf. Nachdem sie sich im Jahr 1968 bei einem Krampfanfall in die eigene Zunge gebissen hatte, wurde ihr Epilepsie mit Anfällen von Typ Grand Mal diagnostiziert, wogegen sie antikonvulsive Mittel bekam.  

Während ihrer Schulzeit und ihres Studiums an der Pädagogischen Hochschule in Würzburg kehrten die Anfälle immer wieder zurück. Äusserlich zumindest glichen sie epileptischen Anfällen. Eine eingehende psychiatrische Untersuchung mit psychopathologischem Befund fand aber nie statt, und somit ist unklar, ob sie nicht zusätzlich noch an einer psychischen Krankheit litt, etwa einer neuronalen Störung, die Trance- und Besessenheitszustände verursachte.  

Eine glückliche Familie? Anneliese ganz links.
Eine glückliche Familie? Anneliese ganz links.Bild: Alexandru Valentin Craciun

Befreundete Kommilitoninnen berichten, dass sie schon im Studentinnenwohnheim einer Rosenkranzgebetsgruppe angehörte. Als sich ihr Zustand verschlimmerte, hätten diese es verhindert, dass ein Notarzt herbeigerufen wurde, und stattdessen einen Exorzisten geholt, der sich als Anneliese Michels Hausarzt ausgegeben habe.

Sandra Hüller als Michaela Klinger in «Requiem».
Sandra Hüller als Michaela Klinger in «Requiem».Bild: MisterNeil

Bei der jungen Studentin und ihren Eltern verfestigte sich die Überzeugung, dass sie von Dämonen besessen sei. Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends und es häuften sich aggressive Anfälle. Anneliese begann sich Verletzungen zuzufügen. Sie trank ihren eigenen Urin und ass Insekten, um sich selbst zu kasteien. 

Der örtliche Pfarrer Ernst Alt, der auf Bitten von Anneliese selbst und von ihrer Familie hinzugezogen wurde, glaubte ebenfalls an eine dämonische Besessenheit. Er gab zu Protokoll, sie sehe «nicht wie eine Epileptikerin aus» und bat den Würzburger Bischof um die Erlaubnis, einen Exorzismus durchzuführen. In der Folge wurde mit Genehmigung des Bistums von Pater Arnold Renz und Pfarrer Ernst Alt der grosse Exorzismus nach dem Rituale Romanum durchgeführt. 

Zwei bis drei Mal die Woche – bis zu Annelieses Tod insgesamt 67 Mal – führten die Geistlichen das Ritual durch. Während dieser Zeit brachte sich Anneliese Michel schwere Verletzungen bei, darunter Blutergüsse im Bereich beider Augen. In den letzten Wochen ihres Lebens wurde sie zeitweise ans Bett gefesselt, um schlimmere Verletzungen zu verhindern. Weiter war noch von abgebrochenen Zähnen die Rede und von Stigmata, die an Körperstellen auftraten, wie sie mit den Wundmalen Jesus Christus in Verbindung gebracht werden. 

Auf Tonbandaufzeichnungen ist zu hören, wie Anneliese mit verstellter, hörbar tiefer Stimme sprach. Sie fluchte, was das Zeugs hielt, und behauptete, von insgesamt sechs verschiedenen Dämonen – darunter Hitler, Judas oder dem römischen Kaiser Nero – besessen zu sein.  

Sämtliche Tonaufnahmen der Exorzismen, von Renz aufgenommen, gibt es auf dieser Playlist.Audio: YouTube/Mark Kowalski

Am 1. Juli 1976 starb Anneliese Michel zuhause in ihrem Kinderzimmer auf dem Fussboden. Der Autopsiebericht wies Verhungern als Todesursache aus.

Zum Zeitpunkt ihres Todes wog sie noch 31 Kilogramm.  

In der darauffolgenden Untersuchung befand der Gerichtsgutachter, man hätte Anneliese Michel noch eine Woche vor ihrem Tod retten können.  

Im Gerichtsverfahren, das als der Aschaffenburger-Exorzismus-Prozess weltweit bekannt wurde, wurden die beiden Priester sowie Annelieses Eltern angeklagt wegen «fahrlässiger Tötung durch Unterlassung». Die Verteidigung argumentierte, der Exorzismus sei legal vollzogen worden und die bundesdeutsche Verfassung garantiere den Bürgern die Ausübung ihrer religiösen Freiheiten. 

Die vier Angeklagten im Aschaffenburger Exorzistenprozess, (v.l.n.r.) Pfarrer Ernst Alt, Pfarrer Renz, sowie die Eltern Anna und Josef Michel, aufgenommen bei der Urteilsverkündung am 22. April 1978.
Die vier Angeklagten im Aschaffenburger Exorzistenprozess, (v.l.n.r.) Pfarrer Ernst Alt, Pfarrer Renz, sowie die Eltern Anna und Josef Michel, aufgenommen bei der Urteilsverkündung am 22. April 1978.Bild: KEYSTONE

Der Richter befand die Angeklagten für schuldig und verurteilte alle zu je sechsmonatigen Haftstrafen, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. Dies war eine mildere Strafe als von vielen erwartet, ging aber bedeutend weiter als die von der Staatsanwaltschaft lediglich geforderten kleineren Geldstrafen für die Geistlichen, bzw. der Straferlass für die Eltern, da sie am Verlust der Tochter schon schwer genug zu tragen hätten.  

In der Folge wurde der Fall verschiedentlich von Juristen, Theologen, Medizinern, Psychologen und Kulturanthropologen untersucht. Während die Berichte zum Teil etwas voneinander abweichen, ist ihnen allen der Befund gemeinsam, dass es zunächst die unvollständige medizinische und psychologische Diagnose und die daraus folgende inkorrekte medikamentöse Behandlung war, die dazu führten, dass sich Anneliese Michels Zustand rapide verschlechterte. Der Stress der Exorzismen war dann der endgültige Auslöser, der das Verhungern zur Folge hatte.

Unter den vielen Kommentatoren sticht die Erklärung des evangelischen Theologen Uwe Wolff hervor, da sie die Schuld eindeutig der streng katholischen Erziehung von Anneliese zuweist: Im Gegensatz zur Mehrheit ihrer Generation habe sie sich nicht einfach durch Rebellion und Provokation von ihrer Erziehung befreien können. Nur eine einzige Rolle habe in ihrer tiefreligiösen Welt die Möglichkeit zur Befreiung geboten: die der Besessenen, als die sie alles Katholische, ihre Eltern und die sie umgebende Kultur beschimpfen konnte, ohne aber diese an sich in Frage zu stellen.  

Gleichzeitig konnte keiner der Ärzte ihr eine Sinngebung ihres Leidens bieten. Ganz anders die Religion: Hier konnte sie ihr Leid als stellvertretendes Sühneleiden verstehen, durch das anderen Menschen die Hölle erspart würde. Und: Die katholische Kirche verbot ihr den Selbstmord – dieser hätte als Todsünde die Sühnedeutung gerade zerstört. Folglich blieb als letzte Möglichkeit nur der Tod aufgrund des schon bestehenden Leidens.  

Annelieses Grab, heute eine Pilgerstätte für religiöse und nicht-religiöse Menschen gleichermassen.
Annelieses Grab, heute eine Pilgerstätte für religiöse und nicht-religiöse Menschen gleichermassen.Bild: Findagrave.com

«Das Leid dieser Menschen ist ungeheuer gross», sagt Christoph Casetti, Domherr des Bistums Chur im SonntagsBlick vom 25. Mai 2014. Bleibt zu hoffen, dass sie die korrekte Hilfe erhalten. 

Postskriptum: Im Sommer 2013 brannte das Haus von Anneliese Michel bis auf die Grundmauern nieder. Die Polizei vermutet Brandstiftung.

Links
- Die Original-Tonaufnahmen des Exorzismus, von Pater Arnold Renz aufgenommen als Playlist

- Transkript der Tonaufnahmen (Google Docs)
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