Wem die Vorstellung einer Trump-Präsidentschaft Unbehagen bereitet, der wird sich an den aktuellen Umfragen erfreuen. Für ein Comeback dürfte es jetzt zu spät, der Rückstand auf Hillary Clinton schon zu gross sein. Anlass zur Sorge geben da eher seine Behauptungen, der Urnengang werde ohnehin nicht korrekt ablaufen. Werden sich seine passionierten Anhänger um den Sieg betrogen fühlen und zum Sturm auf Washington blasen? Der konservative Kolumnist David Brooks gelangt zu einer völlig anderen Einschätzung:
Trump sei narzisstisch, gefühlskalt und unfähig, auf andere Menschen einzugehen. Ein einsamer Mann ohne Freunde, das müssen unterbewusst auch seine Wähler fühlen, mutmasst Brooks. Damit widerspricht er dem Narrativ, das sich in den letzten 14 Monaten herauskristallisiert hat: Trump-Wähler lieben ihren Kandidaten innig und verzeihen ihm darum alle kleinen und grossen Fehler. Clinton-Anhänger hingegen verfahren nach dem Ausschlussprinzip und wählen das kleinere Übel. Anders gesagt, heisse Leidenschaft auf der einen, kühle Berechnung auf der anderen Seite.
Wenn Brooks recht hat, dann stimmt dieses Narrativ nicht. Kann es sein, dass Trump-Anhänger gar nicht so leidenschaftlich unterwegs sind und ebenfalls nach Ausschlussprinzip wählen?
Betrachten wir ein weiteres Narrativ der Präsidentschaftswahl 2016: Trump verliert gegen Clinton, aber nicht so hoch, wie er eigentlich sollte. Wären die Demokraten mit einem anderen Kandidaten angetreten (Bernie Sanders?), würden sie mit 10 oder 20 Prozent Unterschied gewinnen. Das sage vor allem etwas über die Unbeliebtheit Clintons aus.
Darin steckt viel Wahrheit, aber längst nicht die ganze: Erinnern wir uns an Trumps Durchmarsch in den Vorwahlen. Wenn seine immer noch respektablen Umfragewerte etwas über Hillary Clinton aussagen, was sagen dann seine damaligen Erdrutschsiege über die anderen republikanischen Kandidaten aus?
Trump-Wähler mögen Hillary nicht, aber sie konnten auch mit den ursprünglich 16 republikanischen Rivalen Trumps nichts anfangen. Darunter politische Schwergewichte wie Jeb Bush, Chris Christie, Rick Perry und Lindsey Graham. Am besten schnitt in den Vorwahlen noch Ted Cruz ab, der sich ebenfalls als politischer Outsider positioniert. Senator ist er erst seit knapp vier Jahren und für die Zentralregierung in Washington hat er nur Verachtung übrig.
Trumps grösstes Wähler-Reservoir sind weisse Arbeiter ohne höheren Schulabschluss. Niemand blickt pessimistischer in die Zukunft als sie, bestätigt Studie um Studie. Sie haben allen Grund dazu. Viele befinden sich in einem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, häuslicher Gewalt und Schulabbrüchen. Trump bietet ihnen ein Ventil, indem er ihre Frustration zum Beispiel auf illegal Eingewanderte lenkt. Das allein erklärt seinen Erfolg aber nicht.
Weisse Arbeiter, vor allem die älteren unter ihnen, haben Präsidenten kommen und gehen gesehen. Republikaner wie Reagan und die Bushs, Demokraten wie (Bill) Clinton und Obama. Keiner hat ihren Niedergang aufhalten können. Warum sollten sie jetzt einen von ihnen wählen und hoffen, dass er oder sie das Steuer herumreisst? Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, besagt ein Albert Einstein (vermutlich fälschlich) zugeschriebenes Zitat. Hillary Clinton hat Trump-Wähler als «klägliche» Rassisten und Sexisten bezeichnet. Auf einige mag das zutreffen. Aber wahnsinnig sind sie nicht.
Weisse Arbeiter sehen sich bei dieser Wahl mit drei Optionen konfrontiert:
Wer kann es ihnen verdenken, dass sich viele für die dritte Option entscheiden? Besser als gar nicht wählen. Und besser als eine Wahl, die für sie keinerlei Konsequenzen hat (eine Pseudowahl). Auch wenn die Wahrscheinlichkeit da ist, dass Trump noch unglücklicher agieren würde als ein Vollblutpolitiker: Ist es nicht plausibel, sich an eine noch so winzige Chance zu klammern, dass sich etwas zum Positiven verändert?
Aus demselben Grund scheinen Trumps unzählige Skandale ihm in diesem Segment nicht zu schaden, denn seine Gegner werden dadurch nicht wählbarer. Trumps übler Sexismus erhöht die Wahrscheinlichkeit nicht, dass ein Politiker wie Hillary Clinton oder Jeb Bush die darbende Kohle- und Stahlindustrie im Mittleren Westen wiederbelebt. Wer schon unten angekommen ist, für den gibt es keine kleineren Übel mehr. Nur noch den grossen Befreiungsschlag.
«Der weisse Arbeiter» – ein Stereotyp, bei dessen Verwendung Vorsicht geboten ist – steht dieses Jahr im Fokus nicht nur wegen Trump, sondern auch wegen eines wichtigen Buchs, das vor kurzem erschienen ist. In «Hillbilly Elegy» beschreibt J. D. Vance, warum dieses Bevölkerungssegment nicht vom Fleck kommt. Er muss es wissen, denn er ist in einer einst blühenden Industriestadt in Ohio aufgewachsen und hat Niedergang, Arbeitslosigkeit, Drogen und Gewalt mit eigenen Augen gesehen und teilweise in seiner eigenen Familie erlebt.
Er schafft, was nur wenigen gelingt: Er geht zur Armee, dann an eine staatliche Universität und später an die Elite-Schule Yale. «Upward Mobility», heisst das im Fachjargon. Nicht weil er besonders willensstark gewesen wäre, wie er schreibt. Sondern dank seinen Grosseltern und vor allem seiner Grossmutter, die ihn unterstützte.
Vance spricht mit viel Zuneigung über den weissen Arbeiter – es sind Freunde und Familienangehörige darunter. Ebenso schonungslos und darum glaubwürdig fällt seine Kritik aus. Er sagt Dinge, die kein Politiker sagen darf:
Er erzählt von einer Nachbarin, die voller Verachtung für angebliche Sozialbetrüger ist, selber aber noch nie einen Job gehabt hat und von Lebensmittelmarken lebt. «So viele missbrauchen das System, dass es für hart arbeitende Leute unmöglich ist, die Hilfe zu bekommen, die sie brauchen», pflegte sie zu sagen. Ebenso würden weisse Arbeiter behaupten, Familie und Religion seien ihnen wichtig. Dem gegenüber stünden leere Kirchen, hohe Scheidungsraten und häusliche Gewalt.
Gemäss Vance, der von Interview zu Interview rast, um Amerika «den Trump-Wähler» zu erklären, ist die weisse Arbeiterschaft mindestens im selben Ausmass für ihre Misere verantwortlich wie die Politik. Und obwohl sie tendenziell von der Arbeitsmarktpolitik der Demokraten profitieren würden, bleiben sie auf Distanz:
Trump wird gehen, aber die Millionen desillusionierter weisser Arbeiter werden bleiben und ihre Probleme auch. Ungeachtet der Tatsache, dass ihre Bedeutung als Wählersegment kontinuierlich abnimmt, bleibt zu hoffen, dass sie irgendwann eine echte Wahl haben.
Ein Artikel, der Fehlentwicklungen aufzeigt und unaufgeregt analysiert. Stark.
Du sprichst mir aus dem Herzen!
Ich habe in meinem Leben sehr viel mit "ArbeiterInnen" zu tun, denen es in ihrem täglichen Kampf in prekären Arbeitsbedingungen und dem improvisierten "Durchwurschteln" meist nicht möglich ist, sich politisch zu engagieren, die Welt zu bereisen und sich einen Überblick zu verschaffen.
Erst aus der "Flugzeug-Perspektive" werden ja gewisse grössere Zusammenhänge sichtbar!
Nichts desto Trotz sind mir diese Leute sehr ans Herz gewachsen, weil sie echt sind, spontan und herzlich.
Dass sie sich in ihrer bedrängten Lage radikalisieren, erstaunt mich nicht.