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Roger Köppel: Wollt Ihr die totale Sprachverwirrung?

Lucas van Valckenborch, Turmbau zu Babel (1594).
Lucas van Valckenborch, Turmbau zu Babel (1594).Bild: Wikicommons
Kommentar

Roger Köppel: Wollt Ihr die totale Sprachverwirrung?

Die «Weltwoche» vergleicht den möglichen Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, mit Hitler und Mussolini.
05.06.2014, 19:5623.06.2014, 13:52
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In ihrer jüngsten Ausgabe stellt die «Weltwoche» den ehemaligen Premierminister von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, auf dem Titelbild in eine Reihe mit Napoleon, Mussolini und Hitler. Juncker war der Spitzenkandidat der siegreichen konservativen Fraktion bei der Wahl zum Europaparlament und hat daher gute Chancen, der nächste Präsident der EU-Kommission zu werden. Mit dem Titelbild suggeriert die «Weltwoche» daher nicht weniger, als dass die EU bald faschistisch regiert werden könnte.

Der Faschismus verfolgte dasselbe Ziel wie heute die EU: Eine Vereinigung Europas gegen den Willen der Europäer. 
Thierry Baudet

Gestützt wird die These «EU gleich Faschismus» im Inneren des Blattes mit einem Essay eines jungen holländischen Publizisten namens Thierry Baudet. Mit ein paar Zitaten von Mussolini und Goebbels kommt er zur erstaunlichen Aussage, wonach der Faschismus das gleiche Ziel verfolgt habe wie heute die EU: Eine Vereinigung Europas gegen den Willen der Europäer. 

Marine le Pen als heilsame Retourkutsche

Erneut sei eine abgehobene politische Elite am Ruder, gegen die das gemeine Volk zu Recht rebelliere, lautet Baudets Grundtenor. Zum gleichen Schluss kommt auch Chefredaktor Roger Köppel in seinem Editorial. Die Erfolge der Rechtspopulisten bei den Wahlen zum Europaparlament seien nicht etwa Vorboten eines neuen Nationalismus. «Was wir jetzt zum Glück erleben, ist eine heilsame Retourkutsche der Demokratie», stellt Köppel fest. 

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Köppels groteske Geschichtsklitterung ist keine einmalige Entgleisung. Derzeit ist eine totale Sprachverwirrung im politischen Vokabular wieder normal geworden. Am frivolsten treibt es dabei der russische Präsident Wladimir Putin. Er hat Russland in den letzten Jahren auf einen harten nationalistischen Kurs getrimmt, hat dabei systematisch die Opposition ausgeschaltet, hetzt gegen Schwule, höhnt über westliche Dekadenz, beschwört traditionelle Werte Russlands und lügt schamlos. 

Kurz: Putin spielt das klassische Repertoir des Faschismus durch und rechtfertigt dies im Namen des Anti-Faschismus. Er müsse die Russen vor den Faschisten retten, beteuert Putin tolldreist. 

Obama mit Hitlerschnauz

In den USA wird Präsident Barack Obama ausgerechnet im rechtsextremen TV-Sender «Foxnews» regelmässig mit Hitler verglichen. Tea-Party-Mitglieder schwenken bei ihren Demonstrationen Plakate, die ihn mit einem Hitlerschnauz zeigen. 

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USA 2009: Tausende Menschen demonstrieren gegen Obamas Gesundheitsreform. 
USA 2009: Tausende Menschen demonstrieren gegen Obamas Gesundheitsreform. Bild: EPA

Seine Gesundheitsreform – die in etwa das verwirklicht hat, was bei uns längst normal ist – wird als totalitär, sein erfolgloser Kampf für ein schärferes Waffengesetz als faschistisch bezeichnet. 

Der Begriff «Faschismus» ist bedeutungslos und damit beliebig verwendbar geworden. 

«Wenn ich ein Wort verwende», belehrt Humpty Dumpty Alice im Wunderland, «dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.» 

Humpty Dumpty erklärt Alice seine Vorstellung von Semantik. 
Humpty Dumpty erklärt Alice seine Vorstellung von Semantik. Bild: Tumblr/alicismo

Nach dieser Devise wird heute das Wort Faschismus verwendet. Historisch gesehen war Faschismus die Bezeichnung für eine bestimmte, autoritäre Staatsform. Heute bezeichnen sich die Faschisten als Anti-Faschisten und beschimpfen gleichzeitig ihre Gegner als Faschisten. Der Begriff ist bedeutungslos und damit beliebig verwendbar geworden. 

Wenn Krieg zu Frieden wird

Wir erleben etwas, das George Orwell in seinem legendären Roman «1984» als Newspeak bezeichnet. Er versteht darunter das Phänomen, das politische Begriffe je nach Situation auch mit der gegenteiligen Aussage verwendet werden. Im Newspeak der politischen Propaganda kann so Krieg zu Frieden und Frieden zu Krieg werden.

Aus Orwells Roman «1984».
Aus Orwells Roman «1984».Bild: Ummagumma

Newspeak hat die Politik vor dem Ersten Weltkrieg geprägt. Im nationalistisch und militaristisch aufgeheizten Klima war keine Aussage zu absurd, um nicht in der Politpropaganda verwendet zu werden. 

Rationale Diskussionen – die Grundvoraussetzung für jede funktionierende Demokratie – waren unmöglich geworden. Politik war gleichbedeutend geworden mit Verunglimpfung. Jede noch so absurde Behauptung war legitim, wenn sie der Schwächung des Gegners diente.

Aus Hugo Balls Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich 1916
«Ein Vers ist die Gelegenheit, möglichst ohne Worte und ohne die Sprache auszukommen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt.»
Hugo Ball

Die Künstler reagierten damals auf die totale Sprachverwirrung mit Dadaismus und Surrealismus, der Sinn wurde im Unsinn gesucht.

Hugo Ball beim Vortrag von Lautgedichten.
Hugo Ball beim Vortrag von Lautgedichten.Bild: Tumblr/berfois

Gegen Newspeak ist kein Kraut gewachsen

In der Philosophie wurde versucht, der Vernunft wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Ludwig Wittgenstein unternahm in seinen logisch-philosophischen Abhandlungen den ehrgeizigen Versuch, eine rein logische Sprache zu konstruieren, um so den politischen Newspeak zu entlarven. Er scheiterte grandios. 

Ludwig Wittgenstein.
Ludwig Wittgenstein.Bild: wikicommons

Bis heute ist es ein Kampf gegen Windmühlen geblieben. Wie Köppel und die «Weltwoche» erneut beweisen: Gegen Newspeak ist kein Kraut gewachsen.  

(Gestaltung: Anna Rothenfluh) 

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16 Kommentare
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klugundweise
06.06.2014 13:13registriert Februar 2014
Ein Feldherr sucht Freiwillige für seine Kampftruppe zur Verteidigung einer Heimat. Einer rückwärts gerichteten Heimat von gestern und vorgestern. Nicht für eine Vision oder Utopie von morgen, nicht für ein konstruktives Miteinander mit den Nachbarn, nicht für ein geregeltes Geben und Nehmen. Aber für eine Schweiz basierend auf Mythen und Märchen, ausgerichtet auf fremde Sündenböcke.
Und dieser Feldherr hält sich einen Hofnarren, dem er eine Zeitung als Sprachrohr zur Verfügung stellt.
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