Gesellschaft & Politik
Islamischer Staat (IS)

Camp Bucca: Die Brutstätte des IS

Gefängnis-Insassen im Camp Bucca – im Zenit waren in dem südirakischen Gefängnis über 26'000 Gefangene inhaftiert.Bild: AP
Auf den Spuren des IS

Camp Bucca: Die Brutstätte des IS

In einem von US-Streitkräften geführten Gefängnis im Süden des Iraks wurde der Grundstein gelegt für die Macht des Islamischen Staates. Gesetzlose Zustände und durchmischte Gefängniszellen führten zur Radikalisierung hunderter Insassen. 
05.11.2014, 17:3706.11.2014, 11:44
William Stern
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Eine Kleinstadt im Süden des Iraks, wenige Kilometer von der Grenze zu Kuwait entfernt, könnte das entscheidende Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Islamischen Staates liefern: Um Qasr, knapp 50'000 Einwohner, ein Hafen, ein ziviler Flugplatz – und bis 2009 eines der grössten Gefängnisse des Iraks, Camp Bucca.

Camp Bucca liegt etwas ausserhalb von Um Qasr und wurde kurz nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen 2003 errichtet. Anfänglich aus nicht viel mehr als ein paar Zelten und einigen Zäunen bestehend, wuchs Camp Bucca innerhalb weniger Jahre zu einem Moloch in der Grössenordnung einer Kleinstadt. 100'000 Häftlinge sollen in den sechs Jahren, in denen Camp Bucca existierte, durch das stacheldrahtbewehrte Eingangstor in eine der Hunderte Baracken geführt worden sein. 

Darunter zahlreiche der gefährlichsten Individuen, die der radikale Islam zur Zeit der amerikanischen Besetzung im Zweistromland hervorbrachte. Abu Bakr al-Baghdadi, Abu Muslim al-Turkmani, Haji Bakr, Abu Qasim: Sie alle sassen in dem Gefängnis nahe der kuwaitischen Grenze, sie alle gehören oder gehörten zur Führungsriege des Islamischen Staates: Al-Baghdadi als oberster Befehlshaber des ausgerufenen Kalifats, al-Turkmani als IS-Statthalter im Irak, und der mittlerweile verstorbene Haji Bakr als militärischer Führer und Vertrauter al-Baghdadis.

Anarchische Verhältnisse

Schilderungen des Alltags in Camp Bucca lassen eine rechtsfreie Zone innerhalb von Stacheldraht und Betonwällen erahnen. Ehemalige Gefängnisaufseher und Militärkommandeure berichten, dass in Camp Bucca ein hierarchisches System unter den Gefangenen errichtet wurde, Scharia-Regelungen in Kraft traten, ein System der Überwachung und Drangsalierung unter den Häftlingen gang und gäbe war. 

Die Problematik von Parallelwelten in Gefängnissen ist nicht neu, ebenso wenig ist sie auf den Irak beschränkt: In den USA haben kriminelle Organisationen wie die Nuestra Familia oder die Aryan Brotherhood faktische Bewegungsfreiheit in den Gefängnissen und rekrutieren Häftlinge mittels eines System von Drohungen und Anreizen. 

Willkürliche Inhaftierungen während und nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen, bürgerkriegsähnliche Zustände, Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit und eine ineffiziente Justiz führten dazu, dass in Camp Bucca neben Leuten wie Abu Bakr al-Baghdadi, die beschuldigt wurden, Angriffe auf amerikanische Soldaten ausgeführt zu haben, auch Kleinkriminelle und «männliche, verdächtig aussehende Personen im Militäralter» inhaftiert waren, die meisten ungebildet, viele nicht einmal des Schreibens und Lesens kundig, empfänglich für die radikale Ideologie der radikalen Religionskrieger um al-Baghdadi. 

Baathisten und Dschihadisten

Der kometenhafte Aufstieg des IS in den letzten Jahren wurde durch einen weiteren Faktor begünstigt, dessen Ursprünge ebenfalls in Camp Bucca und anderen Gefängnissen im Irak zu finden sind. Die fanatischen Dschihadisten teilten in den irakischen Gefängniszellen ihre Pritschen nicht nur mit Kleinkriminellen und Leuten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, sondern auch mit der ehemaligen politischen Clique der Baath-Partei des gestürzten Diktators Sadam Hussein. Die Saat für eine Kollaboration zwischen zwei mächtigen Akteuren in einem zerrissenen Land war gestreut. Die «Washington Post» drückte es so aus: «Die Dschihadisten fanden in den Ex-Baathisten Organisationsfähigkeiten und militärische Disziplin, die Ex-Baathisten in den Dschihadisten eine Mission.»

US-Militärangehörige im Camp Bucca – rechts auf einem Schild Grundrechte der Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen.
US-Militärangehörige im Camp Bucca – rechts auf einem Schild Grundrechte der Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen.Bild: AP

Die Erfahrungen von Abu Ghraib

Erst 2007 rückten die amerikanischen Streitkräfte von dem verheerenden Kurs ab, Häftlinge in den irakischen Gefängnissen bunt durcheinander gewürfelt in Zellen zu sperren. Aufgeschreckt durch die Ereignisse in Abu Ghraib begannen die USA, Camp Bucca und andere Anstalten zu Modellgefängnissen umzufunktionieren. Lesen, Schreiben, und Unterricht einer moderaten Form des Islam stand nun auf dem Lehrplan und – vor allem – wurden die Insassen nun nicht mehr nur nach ethnischen, religiösen Trennlinien, sondern auch und aufgrund ihrer Gefährlichkeit separiert. 

Ob diese Massnahmen den gewünschten Erfolg brachte oder nur kurzfristig die Reputation der USA nach dem Skandal um die Folterungen in Abu Ghraib verbesserte, bleibt unbeantwortet. Dass solche Massnahmen viel zu spät Eingang fanden in die Gefängnis-Direktiven, ist offensichtlich. 

Im Frühjahr 2009 begannen die Amerikaner mit der Überführung von Häftlingen in Gefängnisse, die dem irakischen Justizsystem unterstellt waren. Tausende von Gefangenen wurden in irakische Haftanstalten transportiert, gleichzeitig wurden Hunderte auf freien Fuss gesetzt: Diesen Ex-Häftlingen konnten entweder nach irakischem Recht keine Straftaten nachgewiesen werden, oder aber die entsprechenden Belege stammten aus Geheimdienstquellen, die Amerika nicht willens war, preiszugeben.  

Blick in das Camp Bucca – 2009 wurde das Gefängnis aufgegeben. 
Blick in das Camp Bucca – 2009 wurde das Gefängnis aufgegeben. Bild: AP

Von der «Terror-Universität» zum Industrie-Hub

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Nach der Schliessung des Gefängnisses 2009 überliessen die amerikanischen Streitkräfte das Areal einem Zusammenschluss von irakischen und amerikanischen Unternehmern. Heute heisst Camp Bucca Basra Gateway und soll dereinst als Industrie-Drehkreuz die irakische Wirtschaft am persischen Golf ankurbeln. Im Besitz der Kufan Group, eines irakischen Privatunternehmens, soll Basra Gateway als logistisches Zentrum «den neuen Irak in das 21. Jahrhundert führen.»

Ob Basra Gateway zu einer Erfolgsgeschichte wird, bleibt abzuwarten. Auf der englischsprachigen Website der Kufan Group sind neben Visualisierungen und vollmundigen Versprechungen für potentielle Investoren bloss spärliche Informationen zu aktuellen Projekten zu finden. Der Kontrast des Wandels von einer ehemaligen Brutstätte des Terrors zu einem Zentrum für wirtschaftlichen Fortschritt könnte aber nicht grösser sein.

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