Liebe Selma
Wie Sie vielleicht wissen, habe ich eine Schwäche für Ironie. Ich mag die feinen Zwischentöne, wenn man was nicht ganz ernst meint, das Gesagte aber mit dem ernsten Brustton der Überzeugung bringt. Und nein, in der Schweiz ist man damit oft überfordert, ich sehe das oft wenn ich die Kommentare zu meinen Antworten lese. Ich bin dann immer etwas erstaunt, wie sehr diesbezüglich meine deutschen Gene durchdrücken. Aber warum ich das alles überhaupt schreibe, werden Sie sich fragen.
Nun ja, Ihre Frage, ich hätte sie ohne grossen Aufwand mit ironischem Unterton beantworten können. Hätte schreiben können, dass Sie gefälligst geknickt durchs Leben gehen und mal bitte sehr etwas traurig aus der Wäsche schauen sollen. Dass es in Zeiten wie diesen vollends unpassend ist, wenn man guter Laune ist oder sich sogar als glücklich bezeichnet. Eine Frechheit gar! Und überhaupt. Aber das werde ich nicht tun. Es versteht ja eh keiner. Perlen vor die Säue, sage ich da nur. Stattdessen werde ich Ihnen sagen, wie es wirklich ist:
Es ist nicht nur Ihr gutes Recht, trotz allem was an Schlimmem auf dieser Welt passiert, glücklich zu sein. Es ist sogar Ihre heilige Pflicht, gopfnonemol! Wir leben in einem der sichersten und reichsten Länder dieser Welt. Wir haben die besten Startbedingungen für ein sehr erfülltes und zufriedenes Leben. Und leben es dann meistens doch nicht. Weil wir immer mehr wollen. Von allem. Nie sehen und begreifen, was wir eigentlich haben. Und das sehe ich als viel schlimmer an, als wenn wir trotz stürmischer Zeiten glücklich sind. Unsere ewige Unzufriedenheit ist eine wahrhaftige Ohrfeige ins Gesicht aller Flüchtlinge dieser Erde und jedes hungernden oder unterdrückten Menschen wo auch immer.
Wenn wir nicht begreifen, dass wir die Welt zu einer besseren machen, wenn wir unserer eigenen privilegierten Ausgangslage endlich einmal bewusst werden und aufhören, uns über Kleinkram zu grämen und ständig mehr wollen, anstatt das Vorhandene zu lieben und zu schätzen, dann haben wir den Sinn des Lebens nicht begriffen. Wir tragen Verantwortung dafür, dass wir es so verdammt gut haben. Das heisst nicht, dass wir Schuldgefühle dafür hegen sollen, im Gegenteil. Aber es heisst, dass wir das Beste daraus machen müssen und dafür sorgen, dass wir im Einklang mit uns selber und unseren Nächsten leben. Wenn Sie glücklich sind, liebe Selma, dann profitiert Ihr nächstes Umfeld direkt davon. Und davon wiederum das weitere Umfeld. Ich habe es in meiner Antwort betreffend Paris so formuliert: «Nächstenliebe ist kein naives Konzept. Sie ist der allererste Dominostein, der diese Welt zu einer besseren verändern kann.»
Geniessen Sie Ihr Leben in vollen Zügen. Seien Sie so glücklich, wie Sie nur können. Und teilen Sie dieses Gefühl mit möglichst vielen Menschen. Das ist Ihre Verpflichtung. Das ist Ihre Verantwortung.
Mit glücklichem Gruss. Ihre Kafi.