In der Schweiz arbeiten viele schlaue Köpfe, die dafür sorgen, dass Schweizer Unternehmen der internationalen Konkurrenz eine Nasenlänge voraus sind. Aber wie ist es mit den so genannt einfachen Jobs? Sind in der Schweiz auch Putzfrauen, Verkäuferinnen, Kellner und Lastwagenfahrer produktiver?
Putzen ist Putzen und Lastwagenfahrer transportieren überall auf der Welt einfach ihre Ware von A nach B – könnte man meinen. Dass dem nicht so ist, wurde mir diese Woche in China eindrücklich vor Augen geführt.
Der erste Unterschied ist, dass in China – wie auch in vielen anderen Ländern – meist zwei Chauffeure in einem Lastwagen sitzen. In der Schweiz wäre das aus Kostengründen undenkbar.
Doch dass Li und Lei Feng zu zweit unterwegs sind, verhindert nicht, dass sich die Fahrt in ihrem Lkw zu einer wahren Odyssee entwickelt. Die beiden wollen Tausende Liter Erdnuss-Milch ausliefern. Die Strasse, die sie zu ihrem Kunden führen soll, ist jedoch für Lkws gesperrt.
Wir machen deshalb einen 15 Kilometer langen Umweg – nur um dann vor zwei Steinklötzen zu stehen, welche die Durchfahrt unseres Lkws verhindern.
Zuerst halte ich es für Pech. Im Verlaufe der nächsten Stunden merke ich aber, dass es mehr mit Planlosigkeit zu tun hat: Kurz nachdem wir die Milch abgeliefert haben, fahren wir erneut in eine Lkw-Sackgasse. Ein halbe Stunde später dürfen wir nur passieren, weil wir den Checkpoint-Verantwortlichen mit zwei Päckchen Zigaretten schmieren. Und einmal kommen wir lediglich weiter, weil es Lei Feng gelingt, unseren Lkw in Milimeterarbeit zwischen zwei Steinklötzen hindurch zu zirkeln.
Wieso sich die beiden mit ihrem Lkw immer die kleinsten Strassen aussuchen, bleibt mir ein Rätsel. Vielleicht halten sie die Schleichwege für Abkürzungen. Vielleicht wollen sie aber auch die Hauptachsen vermeiden, weil dort Mautgebühren anfallen.
Trotz der Irrfahrt entscheide ich mich, die Nacht bei den beiden in der Fahrerkabine zu verbringen. Denn sie haben mir angeboten, dass ich am nächsten Tag mit ihnen 750 Kilometer Richtung Nordosten fahren kann.
Die ersten 200 Kilometer, bis zu dem Ort, wo wir die neue Lieferung aufladen sollen, machen wir noch am selben Abend. Dann übernachten wir irgendwo am Strassenrand. Am nächsten Morgen steht aus irgendeinem Grund jedoch keine Fracht für uns bereit. Wir sitzen deshalb den ganzen Morgen im stehenden Lkw.
Erst nach dem Mittagessen geht es endlich weiter – nach nur zehn Kilometern fährt Lei Feng in einer Kleinstadt aber bereits wieder rechts ran. Kurz darauf verschwindet er in einem Game-Shop, Li und ich warten in der Fahrerkabine auf einen neuen Auftrag. Eine Stunde, zwei Stunden – den ganzen Nachmittag.
Beim Abendessen frage ich Li mithilfe der Übersetzungs-App, ob es häufig vorkomme, dass sie einen ganzen Tag wartend am Strassenrand verbringen. «Ja», antwortet er. Es scheint, als könne er daran nichts Ungewöhnliches erkennen. Nachdem wir gegessen haben, holen wir noch etwas zum Mitnehmen für Lei Feng. Er ist nach wie vor im Game-Shop, wo er die letzten zehn Stunden verbracht hat – und noch bis tief in die Nacht hinein bleiben wird.
Vor dem Einschlafen will ich von Li wissen: «Aber morgen gehen wir doch weiter Richtung Nordosten?» Er nickt. «Kannst du es garantieren?», hake ich nach. Er nickt wieder. «Hundertprozentig?», frage ich ein drittes Mal.
Erneute Zustimmung. Ich bin beruhigt, sage ihm aber noch: «Wenn du nicht sicher bist, musst du es mir sagen. Dann muss ich morgen eine andere Mitfahrgelegenheit finden.» Denn ich kann momentan keine Zeit verschwenden, in ein paar Tagen muss ich die Fähre nach Südkorea erwischen.
Um acht Uhr wache ich auf in der Überzeugung, dass wir gleich losfahren. Doch Lei Feng ist bereits wieder im Game-Shop und Li zieht sich auf seinem Smartphone den x-ten Film rein. Aufbruchstimmung sieht anders aus.
Ich hole deshalb meinen Rucksack von der Ladefläche und will ohne die beiden weiter. Als Li das sieht, tippt er ins Smartphone: «Am Mittag fahren wir ab.» Ich bin hin- und hergerissen, nachdem mir aber Lei Feng im Game-Shop dasselbe sagt, vertraue ich schliesslich auf ihr Versprechen.
Um zwölf Uhr kommt Lei Feng dann tatsächlich aus seiner Spielhöhle. Wir gehen Mittagessen und dann geht's ab in den Lkw – für ein Mittagsschläfchen. Eine Stunde gestehe ich den beiden noch zu, dann wecke ich sie auf und frage ungeduldig: «Jungs, ihr habt gesagt, wir fahren am Mittag los.» Doch die beiden machen keine Anstalten, ihren Schlaf zu beenden.
Also hole ich erneut meinen Rucksack von der Ladefläche und verabschiede mich. 45 Stunden habe ich mich von den beiden hinhalten lassen, dabei sind wir nur 200 Kilometer weit gekommen. So viel unproduktive Zeit, das ist mir selbst zu blöd, wenn ich auf Reisen bin. Sie dagegen können nicht nachvollziehen, wieso ich es so eilig habe. Ihr Verhältnis zur Zeit ist völlig anders. Als ich ziemlich genervt wegtrotte, halte ich in meinem Kopf deshalb eine Lobesrede auf die Arbeitsmoral in der Schweiz – in allen Berufsgruppen!