Die erfolgreiche deutsche Autorin Ariela Bogenberger hat rund 20 Jahre lang Kurse und Drogentherapien beim kürzlich verstorbenen Lüsslinger Psychiater Samuel Widmer besucht. Der Arzt war der spirituelle Meister der Solothurner Kirschblütengemeinschaft. Er führte Drogentherapien in Grossgruppen durch und betrachtete LSD, Ecstasy und andere Drogen als Türöffner zur Seele.
Am nächsten Dienstag strahlt der Bayrische Rundfunk um 22.30 Uhr einen Dokumentarfilm über Ariela Bogenberger aus, die den Ausstieg aus der Kirschblütengemeinschaft schaffte. Im Interview mit watson spricht die Autorin über ihren Ausstieg und ihre leidvolle Zeit bei Widmer.
Was motiviert Sie, mit Name und
Gesicht Ihre Geschichte mit dem Schweizer Psychiater Samuel Widmer und seinen
Drogentherapien öffentlich zu machen?
Ariela Bogenberger: Mir ist klar geworden, dass die
Drogenabgabe und -einnahme im Untergrund gefährlich ist. Es gab dabei schon
Tote und Verletzte. Widmers Therapie ist ja identisch mit seiner Lehre: Werdet
euer Ego los, dann gibt es auch keine psychischen Störungen mehr.
Wie gross ist die Szene um Widmer und
die Kirschblütler?
Es gibt im grossen Umfeld von Widmer ein
paar tausend Leute mit langjährigen Drogentherapie-Erfahrungen, doch niemand
schaut hin. In diesem Dunstkreis wird so vieles geheim gehalten, dass es
dringend eine öffentliche Debatte braucht. Vor allem Ärzte sollten sich zu Wort
melden, die nicht mit Widmers Lehre und Praktiken übereinstimmen. Ich frage
mich, weshalb die Behörden diese Auseinandersetzung nicht führen wollen.
Im Fernsehbeitrag vom nächsten
Dienstag charakterisieren Sie die Kirschblütengemeinschaft von Lüsslingen SO
als Sekte. Welche Aspekte sind für Sie besonders sektenhaft?
Widmer spricht selbst von der «guten
Sekte». Das klingt wie die gute Diktatur. Es ist ein hierarchisches System,
auch wenn Widmer und seine Frau Danièle, die nun Kopf der Gemeinschaft ist, immer
von Liebe sprachen. Demokratisch ist das nicht. Widmer wurde als Autorität in
allen Belangen verehrt. Als Lehrer und Meister, der für alle Probleme dieser
Welt die perfekten Lösungen zur Hand hat. Die Drogen sind dabei mächtige Mittel
zur Manipulation. Im Rauschzustand würde man auch einen Nasenbären für einen
Erleuchteten halten.
Wie liefen die Drogentherapien ab,
welche Funktion hatte dabei die Sexualität?
Darüber möchte ich eigentlich nicht
reden. Das tut weh. Tantra mit Drogen ist toxisch. Drogen reissen wichtige
Grenzen nieder. Auch die Idee, dass ohne Ego alles besser sei, führt zu
schmerzlichen Prozessen.
Wie muss man sich die Abhängigkeiten
vorstellen?
Wie bei jedem Kult oder bei jeder
ausschliesslichen Heilslehre. Widmer unterscheidet die Durchschnittsmenschen
von den Kriegern. Alle, die nicht den Kriegerweg gehen, sind arme Socken, die «die Liebe» verpassen. Verräter gibt es bei dieser Weltsicht auch. Das wäre
dann ich, zum Beispiel. Und da sind die Indoktrination, «undue influence» (unzulässige Beeinflussung) und Manipulationen. Es wäre wichtig, diese
Phänomene zu erforschen. In Bayern, wo ich wohne, gibt es rund 1500
sektenartige Gruppen. Kommt hinzu, dass sich viele Ärzte und Therapeuten in
Widmers Dunstkreis bewegen. Zu diesen steht man ja sowieso in einer
Abhängigkeit.
Sie haben 20 Jahre lang an den
umstrittenen Kursen und Drogentherapien teilgenommen. Was hat dies mit Ihnen
und Ihrer Persönlichkeit gemacht?
Das Bedrückende ist, dass ich das
nicht weiss. Ich würde das auch nicht mehr als Therapien bezeichnen! Es sind
bestenfalls Rituale. Die auch anders durchgeführt werden als die
Drogensitzungen in den sogenannten Studien. Widmer mischte Drogen,
hauptsächlich MDMA und LSD, und gab sie an sehr viele Leute auf einmal ab. So
auch an seine Schüler.
Wie haben Ihre Familie und Freunde
auf Ihre mentale Veränderung reagiert?
Die Anhänger der
Kirschblütengemeinschaft sprechen nicht mehr mit mir und erzählen komische
Sachen über mich. Ich vermisse die Freunde, die ich dort hatte. Das sind
sensible, idealistische Menschen. Mir bleibt nur, mit Blumenstrauss und rotem
Teppich «draussen» auf sie zu warten. Denn die Welt ausserhalb der Gemeinschaft
ist schöner und liebevoller, als sie aussieht, wenn man noch in der
Widmer-Zuckerwatte-Welt festklebt.
War Samuel Widmer, der vor ein paar
Monaten verstarb, für die Teilnehmer ein spiritueller Meister oder wurde er gar
als Guru verehrt?
Die Frage verstehe ich nicht so ganz.
Was wäre der Unterschied? Gegenfrage: Ist das Konzept, dass es Erleuchtete
gibt, nicht weit verbreitet? Wenn es Erleuchtete gibt, dann folgt man ihnen, um
selbst erleuchtet zu werden, richtig? Das sehen viele so, auch wenn sie es nicht
konkret umsetzen. Zumeist folgt man blind, weil man ja vertrauen muss. Das ist
ein wesentlicher Teil der Lehrer-Schüler-Beziehung und wird in fast allen
spirituellen Gemeinschaften so praktiziert. Ich für meinen Teil glaube nicht mehr
an Führer. Weder an spirituelle noch an politische.
Wann begannen Sie am System Widmer zu
zweifeln?
Als ich realisierte, dass Widmer sich selbst nicht an
seine Lehre und Dogmen hielt, die er uns vermittelte.
Was war der schwierigste Aspekt beim
Ausstieg?
Mir einzugestehen, dass ich mich
getäuscht habe. Das habe ich mit vielen Aussteigern gemeinsam. Die Lehre ist
nicht das Entscheidende. Sekten oder Kulte dienen der Bereicherung der
jeweiligen Führer. Sie nähren sich vom Geld und der Bewunderung ihrer
Gefolgschaft.