Zwischen Bern und Brüssel laufen die Drähte heiss. Dies behauptet zumindest die «SonntagsZeitung». Demnach sollen die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union kurz vor dem Abschluss stehen. Gleichentags berichtete die «NZZ am Sonntag» über das Konzept von Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf zur Reform der Unternehmensbesteuerung. Die Schweiz hat sich auf Druck der EU verpflichtet, bestimmte Steuerprivilegien abzuschaffen.
Schweiz und EU – das war noch nie eine Liebesbeziehung. Mehr eine Vernunftehe. In letzter Zeit aber hat sich das Verhältnis spürbar abgekühlt. Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar bildet dabei nur einen von mehreren Konfliktherden. Ein Überblick über die wichtigsten Baustellen:
Die EU will die bilateralen Verträge und andere Abkommen mit der Schweiz in einem institutionellen Rahmenabkommen bündeln. Seit Mai wird darüber verhandelt. Die Forderungen aus Brüssel sind einschneidend: Die Schweiz soll Weiterentwicklungen des EU-Rechts automatisch übernehmen. Bei Streitfällen soll sie den EU-Gerichtshof als oberste Instanz akzeptieren. Andernfalls muss sie mit Sanktionen rechnen, bis zur Aufkündigung der bilateralen Verträge. Ausserdem soll die Schweiz regelmässig Kohäsionszahlungen leisten.
Die Verhandlungen sind laut «SonntagsZeitung» weit gediehen. Die Schweiz wolle einen Abschluss erreichen, bevor der zuständige EU-Chefdiplomat David O'Sullivan im Herbst als EU-Botschafter nach Washington wechselt. Heftiger Widerstand ist programmiert. SVP-Vordenker Christoph Blocher hat ein neues Komitee für den Kampf «gegen den schleichenden EU-Beitritt» gegründet. Bei einem Nein zum Rahmenvertrag würde vorerst alles beim Alten bleiben. Neue Verträge, etwa ein Stromabkommen, könnte die Schweiz allerdings vergessen.
Das Ja zur Zuwanderungsinitiative stellt das Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr in Frage. Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat Ende Juni angekündigt, den neuen Verfassungsartikel möglichst wortgetreu umsetzen zu wollen, inklusive Kontingente für Zuwanderer. Weil diese mit der Personenfreizügigkeit nicht vereinbar sind, hat der Bundesrat letzte Woche bei der EU formell ein Gesuch um Anpassung des Abkommens eingereicht.
Ein Verhandlungsmandat will der Bund bis im Herbst ausarbeiten. Die Chancen stehen schlecht. Hohe EU-Vertreter haben die Personenfreizügigkeit als «tragende Säule» und «nicht verhandelbar» bezeichnet. Selbst skeptische Mitgliedsländer wie Grossbritannien stellen sie im Grundsatz nicht in Frage. Politische und wirtschaftliche Kreise in der Schweiz setzen deshalb auf eine erneute Abstimmung, um das Ergebnis vom 9. Februar zu korrigieren.
Seit 2005 kritisiert die EU die Schweiz für Steuerregime, bei denen ausländische Unternehmen tiefer besteuert werden als inländische. Die Schweiz wehrte sich lange, doch im Juni erklärte sie sich bereit, die Ungleichbehandlung zu beenden. Um die Abwanderung von Firmen zu verhindern, sollen die Steuern generell gesenkt werden. Ausserdem will die Schweiz als Ersatzlösung eine sogenannte Lizenzbox einführen, mit der Erträge aus Patenten tiefer besteuert werden.
Der Bund rechnet mit Ausfällen von rund 2,2 Milliarden Franken pro Jahr, heisst es im Konzept des Finanzdepartements. Kompensieren will er dies laut «NZZ am Sonntag» durch Einsparungen und eine neue Steuer auf Kapitalgewinnen. Mehr Steuerinspektoren sollen für zusätzliche Einnahmen sorgen. Eveline Widmer-Schlumpf dürfte damit einen schweren Stand haben, ausserdem drohen harte Verteilkämpfe zwischen Bund und Kantonen. Gleichzeitig hält die EU den Druck aufrecht: Sie droht der Schweiz mit Sanktionen, falls sie die umstrittenen Steuerregime nicht abschafft.
Im Rahmen der Bilateralen II vereinbarten die Schweiz und die EU 2004 ein Abkommen zur Zinsbesteuerung. Dieses liess einige Schlupflöcher offen. Seit Januar wird darüber verhandelt. Erklärtes Ziel der EU ist der automatische Informationsaustausch. Lange konnte die Schweiz in dieser Frage auf Luxemburg und Österreich zählen. Die beiden EU-Mitgliedsländer wehrten sich aus Rücksicht auf ihren Finanzplatz dagegen.
Inzwischen haben sie ihren Widerstand aufgegeben, denn auch die OECD will den Informationsaustausch als internationalen Standard etablieren. Die Schweiz werde sich dieser Entwicklung nicht entziehen können, glaubt Jacques de Watteville, Staatssekretär für internationale Finanzfragen. Die Verhandlungen zur Zinsbesteuerung seien deshalb kein Trumpf für die Schweiz, da dieses Abkommen ohnehin bald obsolet sein werde: «Notfalls kann die EU warten.»
Zu allen umstrittenen Bereichen ist eine Volksabstimmung denkbar. Das Absturzrisiko ist hoch. Das gilt besonders für das Rahmenabkommen, das von Christoph Blocher als «Kolonialvertrag» angeprangert wird. Im Departement des Äusseren tendiere man dazu, das Abkommen selbst bei einem raschen Abschluss erst 2016 dem Volk vorzulegen schreibt die «SonntagsZeitung». Man wolle der SVP vor den Wahlen 2015 keine Munition liefern, ausserdem soll möglichst gleichzeitig über die Umsetzung der Zuwanderungsinitiative abgestimmt werden.
Aussenminister Didier Burkhalter hat öffentlich mit einer solchen «Alles-oder-nichts»-Abstimmung geliebäugelt. Sie wäre höchst riskant, denn es droht der totale Scherbenhaufen, sprich die Aufkündigung der bilateralen Verträge. Immer öfter taucht deshalb ein «Gespenst» aus der Vergangenheit auf: Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Vor 22 Jahren lehnte ihn das Stimmvolk ab und zwang den Bundesrat auf den bilateralen Weg. Je mehr sich dieser als Sackgasse entpuppt, umso attraktiver wird der EWR nach Ansicht von Experten. Die Schweiz wäre zwar institutionell eingebunden, hätte aber zumindest ein gewisses Mitspracherecht.