Digital
NSA

Ein Jahr Snowden: Die NSA ist schlimm. Aber wir sind schlimmer

Ein Jahr Snowden: Die NSA ist schlimm. Aber wir sind schlimmer

Demo für Edward Snowden in Berlin.Bild: Reuters
Analyse
Edward Snowden enthüllte vor einem Jahr die beispiellosen Überwachungsmethoden des US-Geheimdienstes NSA. Die grosse Empörung aber fand nicht statt – aus gutem Grund.
09.06.2014, 09:0524.06.2014, 09:25
Mehr «Digital»

Sie rechneten mit einem älteren Bürokraten. Dann aber trat ihnen ein schmächtiger Kerl mit Brille entgegen, der erst 29 Jahre alt war und noch um einiges jünger aussah. So beschreibt der Journalist Glenn Greenwald in seinem neuen Buch den Moment, als er und die Filmemacherin Laura Poitras in einem Hongkonger Hotel erstmals mit Edward Snowden zusammentrafen. Es war der Beginn der wohl sensationellsten Enthüllungsgeschichte der letzten Jahre.

Anhand geheimer Dokumente konnte Snowden darlegen, wie die amerikanische National Security Agency (NSA) ein Spionagenetzwerk von ungeahntem Ausmass aufgezogen hat. Nahezu jede Art elektronischer Daten und Kommunikation wird intensiv überwacht. Die Enthüllungen übertrafen die schlimmsten Befürchtungen. Selbst das Handy der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel war vor den Schnüffeleien der NSA nicht sicher.

«Spionage gibt es, seit erstmals ein Mensch Feuer machen konnte und die Nachbarsippe herausfinden wollte, wie das geht.»

Vor einem Jahr liess der «Guardian» die Bombe platzen. Das Geschrei war gross – in den Medien und der digitalen Community. In der breiten Öffentlichkeit aber blieb die Empörung aus. Es gab Kundgebungen mit überschaubarer Beteiligung. Und manche User gehen sorgfältiger mit ihren Daten um. Doch insgesamt hat sich wenig geändert. Der «Spiegel», der die Dokumente ebenfalls auswerten konnte, bezeichnete das erste Snowden-Jahr als frustrierend: «Selten hatten Enthüllungen von derart globalem, historischem Ausmass so wenige konkrete Konsequenzen.»

Sind wir alle apathisch? Wollen wir die Bedrohung unserer Privatsphäre nicht wahrhaben? Oder sind wir einfach realistisch?

NSA-Hauptquartier in Fort Meade.Bild: AP

Die Schnüffeleien der NSA und ihrer Partnerdienste ist beängstigend. Aber Spionage gibt es, seit erstmals ein Mensch Feuer machen konnte und die Nachbarsippe herausfinden wollte, wie das geht. Gerade in der Politik wurde und wird spioniert, was das Zeug hält. «Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht», meinte Kanzlerin Merkel zum US-Lauschangriff auf ihr Handy – und ging als knallharte Realpolitikerin zur Tagesordnung über.

Kommt hinzu, dass kaum jemand die NSA-Aktivitäten direkt zu spüren bekommt. Konkrete «Opfer» sind bislang nicht bekannt. Als «Mord ohne Leiche» wurde die NSA-Affäre deshalb bezeichnet. Das mag überspitzt sein angesichts der belegten Firmen- und Industriespionage. Aber beim Schutz des Individuums machen die Onlinespione in Fort Meade ihre Sache vielleicht doch nicht so schlecht. Man muss nicht die DDR-Stasi als Gegenbeispiel anführen. Es genügt ein Blick auf andere Ländern und ihren Umgang mit den digitalen Medien.

Mehr zum Thema

Beispiel China: Die vom Westen umworbene Wirtschaftsmacht zensiert das Internet in einem Ausmass wie kaum ein anderer Staat. Zehntausende «Internetpolizisten» blockieren Websites und Suchbegriffe, etwa in Zusammenhang mit Tibet oder dem Tiananmen-Massaker. Und dabei bleibt es nicht: Liu Xiaobo, der Friedensnobelpreisträger 2010, wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die Charta 08, ein Manifest für Demokratie und Bürgerrechte, online veröffentlicht hatte. Netzspionage made in China kann definitiv die Gesundheit gefährden.

Beispiel Russland: Im Zuge der Ukraine-Krise hat Präsident Wladimir Putin die Repression im Internet verstärkt. Das Parlament beschloss eine Meldepflicht für die Betreiber von Blogs und anderen Websites mit mehr als 3000 Besuchern am Tag – für Kritiker eine Zensurmassnahme. «Das tatsächliche Ziel ist es, jede Art von Kritik an der Regierung zu verhindern», meinte Human Rights Watch. Wen wundert es da, dass Edward Snowden wenig glücklich ist über sein Zwangsasyl in Moskau.

«Wir nutzen das Internet, stellen unsere Daten zur Verfügung, obwohl wir durchaus wissen, dass dies negative Konsequenzen haben kann.»

Es wirkt scheinheilig, sich über die angebliche Verwerflichkeit der USA aufzuregen und derartige Zustände zu ignorieren. Und erst recht scheinheilig ist es, wenn sich Google, Facebook & Co. über die Machenschaften der NSA empören. Den Internet-Giganten geht es nicht ums Prinzip, sondern ums Geschäft. Denn während es in der Natur der Geheimdienste liegt, dass sie ihre Informationen filtern und alles Unbrauchbare aussortieren, streben die Konzerne das Gegenteil an: Sie saugen alle Daten ab, derer sie habhaft werden, um sie kommerziell zu verwerten.

Wenn Facebook den bislang «jungfräulichen» Messenger-Dienst WhatsApp für 16 Milliarden Dollar übernimmt, stecken keine karitativen Absichten dahinter. Das soziale Netzwerk will wachsen, User gewinnen und vor allem ihre Daten. Wo bleibt hier die Empörung?

Facebook: Soziales Netzwerk und Datenstaubsauger.Bild: AFP

Letztlich bleibt alles an uns hängen. Wir nutzen das Internet, stellen unsere Daten zur Verfügung, obwohl wir durchaus wissen, dass dies negative Konsequenzen haben kann. Jeder Kommentar, den wir posten, jedes Bild, das wir sharen, kann gegen uns verwendet werden – ohne dass die NSA etwas dazu beitragen müsste.

Die digitale Welt ist grossartig. Und furchterregend. Die NSA-Schnüffeleien sind eine logische Folge davon. Was Edward Snowdens Verdienste nicht schmälert, im Gegenteil: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Whistleblower als Held in die Geschichte eingehen wird.

Mehr zum Thema

Über die fehlende Empörung braucht man sich trotzdem nicht zu empören. Die jüngere Generation wird in absehbarer Zukunft die nötigen Korrekturen vornehmen. Zum heutigen Zeitpunkt aber ist ein Internet unter Dominanz von NSA und USA vielleicht das kleinste Übel. 

Man kann das zynisch finden. Oder naiv. Oder einfach nur realistisch.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
2 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
2
Erstmals abgasfrei: Alfa Romeo zeigt das erste E-Auto seiner Firmengeschichte
Neues Lebenszeichen von Alfa Romeo: Die Italiener wagen sich erstmals an die Ladesäule.

Der neue Alfa Romeo Milano ist nicht nur das jüngste Modell der Marke, sondern auch das erste Elektroauto aus dem Hause Alfa Romeo. Der Milano rundet die Modellpalette von Alfa Romeo ab und soll mit einem Preis von rund 40'000 Euro zum Bestseller der Marke werden.

Zur Story