Das Video, das ihr zum Verhängnis wurde, existiert noch. Sie nicht mehr: Tiziana Cantone hat sich erhängt; die Leiche der jungen Frau wurde am Dienstag im Haus ihrer Tante in Mugnano bei Neapel gefunden.
Tiziana Cantone wurde ein Opfer von Verhaltensweisen, die so alt sind wie der Mensch: Schadenfreude, Häme und Schikanen. Und sie wurde ein Opfer der Vervielfältigung, der Verstärkung dieser Schikanen in den sozialen Medien – Cybermobbing.
Knapp anderthalb Jahre dauerte das Martyrium der 31-jährigen Neapolitanerin, bevor sie aufgab und ihrem Leben ein Ende setzte. Am Anfang stand, wie es heisst, ein Racheakt: Cantone befriedigte einen Mann oral, um sich so an ihrem Freund zu rächen, der sie zuvor ebenfalls betrogen hatte. Ihr Sexpartner filmte den Blowjob, und Cantone kommentierte dies mit den Worten: «Ma stai facendo un video? Bravo.» (Machst du da ein Video? Richtig so).
Der Mann – der seinerseits für den Sexakt ganz offensichtlich keinen Hohn erntete – gab das Video per WhatsApp an Freunde weiter, und das Unvermeidliche nahm seinen Lauf: Die Aufnahme gelangte ins Internet – und das noch mit Cantones wahrem Namen. Eine wahre Lawine von Spott ergoss sich nun über die junge Frau, in den sozialen Medien, aber auch im wahren Leben auf der Strasse. Auch dort hagelte es Hohn, Beschimpfungen und Drohungen.
Cantone kämpfte gegen die Lawine an. Und obwohl sie Teilsiege errang – sie erstritt vor Gericht das «Recht auf Vergessen» und konnte diverse Suchmaschinen und auch Facebook dazu verpflichten, das Video zu entfernen – doch die Lawine war in Fahrt, war schon zu gewaltig. Nicht einmal ein neuer Name, eine neue Stadt konnten Cantone schützen. Kaum umgezogen, holte sie ihre Vergangenheit ein, begann die Hetze von neuem.
Und die beschränkte sich nicht auf die virtuelle Welt: Der verhängnisvolle Satz «Ma stai facendo un video? Bravo», der im Netz in zahllosen Parodien kursierte, materialisierte sich; er wurde als Gag auf Tassen, Telefonhüllen, Schlüsselanhänger und T-Shirts gedruckt.
Se fate smettere @peecak di pubblicare roba su #TizianaCantone vi regalo una bellissima tazza pic.twitter.com/PsFnlyISnj
— Free Hugs Here (@SempreilMarco) 24. Mai 2015
Stai facendo un video? bravoh #TizianaCantone #bravoh pic.twitter.com/SZIgDVKf9s
— Giammattia (@ugrilluni) 31. Mai 2015
Die prominenten Fussballspieler Paolo Cannavaro und Antonio Floro Flores landeten mit einer Parodie sogar einen viralen Hit:
Firmen warben mit dem Zitat aus dem Video – zum Beispiel das Wettbüro Paddy Power:
Cantone, wie ein gejagtes Tier in die Ecke gedrängt, litt unter Depressionen und Panikattacken. Mit Alkohol versuchte sie die Angstzustände zu lindern. Sie unternahm zwei Selbstmordversuche. Ihre Mutter sagte der Zeitung «La Repubblica»: «Alles, was sie sah und hörte, verletzte sie zutiefst. Sie hat ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren.»
Am Schluss verlor sie auch den Willen zu leben. Und wie zum Hohn melden sich jetzt, da es zu spät ist, ihre Verteidiger. «Schämt euch», tönt es nun. «Wir sind alle schuldig.» Und auf Twitter verbreitet sich die bittere Erkenntnis, dass Tiziana noch am Leben wäre, wenn sie ein Tiziano wäre:
Tiziana Cantone.
— Tempodistratto (@SDA40) 13. September 2016
Se si fosse chiamato Tiziano
sarebbe vivo.
Questa è la verità.
Perché l'uomo che scopa non provoca scalpore.
Vergogna
Immerhin, die Justiz, die sie zu Lebzeiten nicht schützen konnte, will nun ihren Tod aufklären. Staatsanwalt Francesco Greco hat Ermittlungen eingeleitet, die ans Licht bringen sollen, wie stark die Folgen des Videos Cantone beeinflusst haben.
Und die italienische Öffentlichkeit fragt sich beschämt, warum das Video immer noch im Web kursiert und irgendwelche Leute diese junge Frau auslachen können, die ihrem Leben ein Ende setzte, weil sie die Demütigung nicht mehr aushielt.
(dhr)