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Du willst nur das Beste? Voilà:
Update: Facebook ist inzwischen zurückgekrebst. Zum entsprechenden Artikel: Hier lang.
Ich folge Ihnen zwar auf Facebook, aber Sie kennen mich nicht. Ich bin Chefredaktor der norwegischen Tageszeitung «Aftenposten». Ich schreibe Ihnen, um Sie darüber zu informieren, dass ich nicht gewollt bin, Ihrer Aufforderung, eine dokumentarische Fotografie des Vietnamkriegs (aufgenommen von Nick Ut) zu entfernen, nachzukommen.
Nicht heute und auch nicht in Zukunft.
Die Bitte, das Bild zu entfernen, kam diesen Mittwochmorgen via Mail aus der Facebook-Niederlassung in Hamburg. Weniger als 24 Stunden nach Absendezeit und bevor ich überhaupt Zeit hatte, eine Antwort zu geben, intervenierten sie bereits, indem sie sowohl besagtes Bild als auch den dazugehörenden Artikel auf der «Aftenposten»-Facebookseite gelöscht haben.
Um ehrlich zu sein, ich mache mir keine Hoffnungen, dass sie diesen Brief lesen werden. Der Grund, weshalb ich es trotzdem versuche: Ich bin verärgert und enttäuscht – tja, und eigentlich gar verängstigt. Verängstigt darüber, wozu Sie imstande sind hinsichtlich eines Angriffs auf einen der Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft.
Zunächst ein paar Hintergrundfakten. Vor ein paar Wochen postet der norwegische Autor Tom Egeland auf Facebook einen Beitrag zum Thema, dem er sieben Bilder, welche die Geschichte der Kriegsführung veränderten, anfügte. Postwendend entfernten Sie das Bild der nackten Kim Phuc, die vor einer Napalmbombe flieht. Eine der weltweit berühmtesten Kriegsfotografien.
Tom teilte darauf Kim Phucs Facebook-Kritik, die sie aufgrund der Zensur ihres Bildes verfasste. Facebook reagierte mit einer vorübergehenden Sperrung von Toms Account, um ihn davon abzuhalten, einen neuen Eintrag zu posten.
Hör mal zu, Mark! Das hier ist eine ernste Sache. Zuerst kreierst du Regeln, die keinen Unterschied zwischen Kinderpornografie und berühmter Kriegsaufnahmen machen. Dann vollstreckst du ebendiese Regeln, ohne Raum für gerechtfertigte Urteile zu gewähren. Und schliesslich zensierst du sogar Kritik gegen und Diskussionen über die erwähnten Entscheide – und bestrafst zudem diese Person, die der Kritik eine Stimme zu geben versucht.
Facebook steht für das Vergnügen und den Nutzen der gesamten Welt, hier schliesse ich mich auf diversen Ebenen mit ein: Beispielsweise bleib ich über eine geschlossene Gruppe bezüglich unseres 89-jährigen Vaters mit meinem Bruder in Kontakt. Tag für Tag teilen wir so Freuden und Sorgen.
Facebook wurde zur weltweit führenden Plattform, um Informationen zu verbreiten, Debatten zu führen und für soziale Kontakte zwischen Menschen. Ihr habt diese Stellung erreicht, weil ihr es auch verdient habt, da zu stehen.
Du, lieber Mark, du bist der mächtigste Redaktor der Welt. Sogar für Riesen wie «Aftenposten» ist es schwierig auf Facebook zu verzichten. In der Tat streben wir es auch nicht an, auf Facebook zu verzichten, denn nichtsdestotrotz bietet ihr uns einen grossartigen Kanal für die Verbreitung unserer Storys. Wir wollen unseren Journalismus möglichst vielen Menschen zugänglich machen.
Dennoch, selbst wenn ich der Chefredaktor der grössten Zeitung Norwegens bin, muss ich zur Kenntnis nehmen, dass ihr meinen redaktionellen Verantwortungsbereich einschränkt. Genau das ist es, was du und deine Untergebenen in diesem Fall tun.
Ich finde, ihr missbraucht eure Macht, und ich denke, es ist schwierig zu glauben, dass ihr euer Vorgehen gründlich durchdacht habt.
Lass uns zu besagtem Bild von Nick Ut zurückkommen. Das Napalm-Mädchen ist bei weitem die kultigste historische Fotografie des Vietnam-Krieges. Die Medien spielten eine entscheidende Rolle in der Berichterstattung verschiedenster Geschichten um und über den Krieg, von denen sich die Verantwortlichen keine Enthüllung gewünscht hätten.
Der Journalismus lieferte einen Haltungswechsel,
der für das Ende der Krieges mitverantwortlich war. Man wirkte an einer offeneren und vor allem kritischeren Debatte massgebend mit. So sollte Demokratie funktionieren.
Die freien und unabhängigen Medien haben eine wichtige Aufgabe in der Informationsaufbereitung, die das Veröffentlichen von Bildern einschliesst. Sehr oft führt gerade dies zu unangenehmen Situationen, da es für die führende Elite und machmal gar für die normalen BürgerInnen nicht auszuhalten ist, zu sehen oder hören, was Sache ist. Doch genau dieses Unbehagen macht unsere Arbeit noch viel wichtiger.
«Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet,» schreibt George Orwell im Vorwort von Animal Farm «dann heisst es, das Recht den Menschen zu erzählen, was sie nicht hören wollen.»
Die Medien haben die Verantwortung in jedem einzelnen Fall eine Publikation mindestens zu erwägen. Das mag eine schwere Verantwortung sein – jedeR RedaktorIn muss die Vor- und Nachteile abwägen.
Diese Rechte und Pflichten, welche alle Redaktoren auf der ganzen Welt haben, sollten nicht von einem Algorithmus in eurem Büro in Kalifornien übernommen werden.
Mark, bitte versuche dir einen neuen Krieg vorzustellen, in dem Kinder die Opfer von Sprengstoffbomben und Nervengasen sind. Würdest du dann nochmals die Dokumentation von Grausamkeit zurückhalten, nur um eine winzige Minderheit vor ihrer Scham gegenüber Nacktheit zu bewahren und gestörte Pädophile davon abzuhalten, Bilder von verletzten nackigen Kindern als Pornografie zu verstehen?
Angeblich behauptet die Philosophie Facebooks, ihre Mission sei es, «die Welt offener und vernetzter zu machen.»
De facto tut ihr dies — in total oberflächlicher Manier.
Schafft ihr es nicht einen Unterschied zwischen Kinderpornografie und dokumentarischer Fotografie zu machen, sind es nur Dummheit und Fails, die die Menschen näher zusammenbringen.
So zu tun, als ob es möglich sei, allgemeine globale Regeln aufzustellen, die über Publikation beziehungsweise Nichtpublikation bestimmen, ist wie Sand in die Augen der Menschen zu werfen.
Das letzte Jahrzehnt zeigte das Ausmass an, was für unvorhersehbare und zerstörerische Dinge passieren können, wenn eine Publikation es nicht vermag, eine Sachlage zu kontextualisieren.
Die Kontroverse rund um die Mohammed-Karikaturen, die bereits Ende 2005 entfachte und bis heute eine hitzige Debatte bleibt, hatte ungewisse Konsequenzen, nur weil die ursprüngliche Begründung zur Publikation ignoriert wurde.
Die Zeichnungen wurden in einen völlig neuen Bezug gesetzt, zensiert und auf Grund von angeblichen universellen Religions-Regeln verurteilt. Es kam zu grossen Demonstrationen, Gewalttaten und Morden. Eine starke Bedrohung der Meinungsfreiheit bleibt vorhanden.
Facebooks globale Expansion fand erst nach dem Gipfel dieser Kontroverse statt. Dein Vorgehen, Mark, wäre möglicherweise in die Richtung der Zensur gegangen: Hättest du die Mohammed-Karikaturen verboten? Wenn das so gewesen wäre, hätte Facebook sich auf klischeehafte Weise auf die Seite extremistischer religiöser Kräfte gestellt und wäre somit in die Opposition gegen die Meinungsfreiheit getreten. Du hättest die Wertung jedes einzelnen Journalisten verworfen. Die Arbeit derer, die zu dieser Zeit mittendrin waren, an Veranstaltungen und Happenings, hättest du übernommen: Das tägliche Abwägen von Pro und Contra und das Treffen von Entscheiden aufgrund der Realität, in der wir uns bewegen.
Die Kontroverse um die Karikaturen demonstrieren, wie unmöglich und unlogisch es ist, in einer multireligiösen, multikulturellen, multialles Welt, universale Regeln für die Medienpublikation aufzustellen. Alle menschlichen Praktiken unterscheiden sich hinsichtlich Geografie, Politik, sozialen und wirtschaftlichen Umständen.
Das neuste Facebook sollte, um mit dem Zeitgeist zu harmonieren, geografisch differenzierte Richtlinien zur Beitragsveröffentlichung lancieren. Zudem sollte Facebook herkömmliche User und Journalisten unterscheiden, denn mit dir, Mark, als Masterredaktor, können keine anderen Medienschaffenden leben.
Doch auch diese Anpassungen würden die Problematik lediglich lindern. Sofern Facebook noch andere Ziele als das Wachstum von Usern und Umsatzzahlen hat – und ich bin davon überzeugt, dass ihr noch sowas habt, Mark – müsst ihr eine umfassende Rezension eurer Operationsstrategie annehmen.
Facebook ist ein netter Ort für Leute, die gerne Musik-Videos, Familienessen und andere Ereignisse mit ihrem digitalen Umfeld teilen. Auf diesem Niveau bringt ihr Menschen tatsächlich zusammen. Sobald ihr aber das wirkliche Verständnis zwischen den Menschen zu fördern wünscht, braucht es mehr Freiheit für die gesamte Bandbreite kultureller Äusserungen und für Diskussionen über sachliche Gesichtspunkte.
Und noch mehr: Seid zugänglicher! Da es momentan ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit einem Repräsentant von Facebook irgendwie in Kontakt zu treten, ist das Höchstgefühl eine automatisierte Antwortmail mit einem rigiden Hinweis zu den global universalen Guidelines der Megaplattform. Nimmt man sich die Freiheit und geht an die Grenze der Facebook-Regeln, schaltet ihr euch von alleine ein – wie wir sahen – mit Zensur. Und wenn man diese Geschehnisse debattiert (auf einem sozialen Medium, versteht sich), wird man gerügt und kriegt Arrest, so wie Tom Egeland.
Ich hätte hier weiterfahren können, Mark, doch an dieser Stelle höre ich auf. Ich habe dir diesen Brief geschrieben, weil ich darum besorgt bin, dass das weltweit wichtigste Medium Freiheiten limitiert, anstatt sie zu bewahren und anzureichern. Besorgt auch darum, dass ebendieser Vorgang gelegentlich einen autoritären Charakter annimmt. Aber dennoch schreibe ich, hoffend, dass du ein Verständnis für all dies aufbringen kannst. Denn ich habe eine positive Haltung gegenüber den Möglichkeiten, die uns Facebook eröffnete. Ich hoffe bloss, dass du diese tollen Möglichkeiten besser einsetzen wirst.
PS: Ich füge dir einen Kommentar unseres 73-jährigen Cartoonisten Inge Grødum zur Zensur-Praktik von Facebook hinzu. Was sagt der Algorithmus dazu? Geht das?
(Übersetzung: Jovin Barrer)