Sag das doch deinen Freunden!
Donnerstagabend, 23.30 Uhr. Die Strassen von Crickhowell sind wie leergefegt. Lärmende Trainerhosen-Jugendliche, in Wasserlachen schwimmende Kebabresten und torkelnde Minirockträgerinnen – alles, worüber der geneigte «Daily Telegraph»-Leser am Samstagmorgen in ehrlicher Empörung seinen Schwarztee verschüttet – sind hier nicht zu sehen.
Einmal taucht eine Gruppe von jungen Männern an einer Strassenecke auf. Sie sind – für britische Verhältnisse – leicht angeschickert. Alle tragen sie einen Strickjacken-Pullover mit Weihnachtsmotiven – es ist Christmas Sweater Day. Schwiegersohn–Material allesamt. Ein Opel Vectra lässt kurz darauf seine Nebellichter durch die Highstreet schwenken. Aus den geöffneten Fenstern des Wagens dringt Coolios «Gangsta's Paradise».
Das Lied mag nicht so recht passen zum biederen Nest in Wales.
In Crickhowell gibt es keine Obdachlosen. Seine knapp 3000 Einwohner gehen geregelten Jobs nach, sie kaufen Ochsenzunge und selbstgemachte Konfitüre beim Metzger, Flat White im Café Number 18, Krapfen und Pies bei der Bäckerei Askew's. Nur das Fish & Chips-Restaurant hat vor kurzem dicht gemacht, an der Tür baumelt ein verblasstes Plastikschild: «Closed». Fish & Chips, das Leibgericht des einfachen Mannes, gibt es neu nur noch in der Seitenstrasse.
Nichts an Crickhowell ist prickelnd, aber das ganze Land blickt auf den kleinen Weiler in Wales, denn heute Abend (22 Uhr, ) schlüpfen die schrulligen Kleingewerbler von Crickhowell in die Rolle der grossen, glänzenden supranationalen Konzerne wie Facebook, Vodafone, Apple und Konsorten. BBC 2
In Zusammenarbeit und mit Unterstützung der grossen BBC haben die kleinen Dorfgewerbler ein Steuerspar-Konstrukt ausgeheckt. Und das steht den Tricks der Grosskonzerne in nichts nach, die ihre Milliardengewinne solange in Unter-, Tochter- und Holdinggesellschaften in Steuerparadiesen umschichten, bis für den Fiskus nichts mehr zu holen ist.
Die Botschaft der Gewerbler von Crickhowell geht an die Politik und könnte deutlicher nicht sein: Was die können, können wir auch und wenn wir alle wie Facebook nur noch vierstellige Pfundbeträge versteuern, dann ist unser Staat bald pleite. Also beendet den Irrsinn lieber früher als später.
Und der Irrsinn ist teuer. Die Lücke zwischen demjenigen Betrag, den die Gesamtheit der Steuerzahler einzahlen sollte, und demjenigen, der am Ende tatsächlich in die Schatzkasse des Staates fliesst, beträgt 34 Milliarden Pfund oder 6,4 Prozent des erwarteten Gesamtbetrags. Damit könnte ein neues Kernkraftwerk gebaut werden, Schottland könnte bei einem Austritt aus dem Königreich eine eigene Währung finanzieren, oder das britische Verteidigungsbudget könnte mal eben verdoppelt werden.
«Wir wollen, dass Crickhowell so bleibt, wie es ist und das geht nur, wenn alle ihren fairen Anteil zahlen», sagt Steve. Der Ex-Elitesoldat drahtige Figur, flache Stirn, buschige Augenbrauen, empfängt zwischen hohen Barstühlen und hellem Ikeaholz im Number 18 Café. Der 50-Jährige Café-Besitzer ist der Rädelsführer der sogenannten Fair-Tax-Initiative der Gewerbler von Crickhowell und er ärgert sich grün und blau über das Gebahren der Multis in Sachen Steuerflucht.
Die wird in so vielen Varianten praktiziert, wie es Multis gibt. Erwirtschaftete Unternehmensgewinne werden beispielsweise auf Jersey Island oder der Isle of Man versteuert, in irgendeiner Holding oder Tochterfirma – zu einem Bruchteil des britischen Steuerfusses natürlich. Ein Briefkasten in einem Steuerparadies, ein ausgeklügeltes Steuerkonstrukt, eine Armada von hochdotierten Anwälten: Mehr braucht es nicht, um dem Fiskus eine lange Nase zu drehen.
Facebook, Amazon, Vodafone, Apple & Co. reizen die Flexibilität der britischen Steuerbehörde in skandalöser Weise aus. Der amerikanische Social-Media-Gigant Facebook zahlte 2014 exakt 4327 Pfund Unternehmenssteuern – weniger als der britische Durchschnittsverdiener. Also marschierten Steve & Co. mit ihrem eigenen Steuerkonstrukt zur Steuerbehörde HMRC – «ein Gebäude wie die Goblin-Bank Gringotts bei Harry Potter!» – und liessen es von ihr auf Legalität prüfen.
Ausgeheckt hatte den Plan Heydon Prowse. Für einen Fernsehfilm über die Schattenseiten der britischen Wirtschaft, suchte der Regisseur und Filmproduzent der BBC eine Gruppe von Kleinunternehmern, die bereit sind, die Steuerpraktiken der Multis durch Nachahmung zu brandmarken. Bei Steve und seinen Kolleginnen und Kollegen des Lokalgewerbes von Crickhowell war er an der richtigen Adresse. Kurz zuvor hatten sie eine Niederlassung der Supermarkt-Kette Tesco verhindert.
«Wir sind das letzte unabhängige Dorf», sagt Emma stolz. Die 35-Jährige, schlanke Waliserin mit Meg-Ryan-Kurzhaarschnitt führt den Buchladen «Bookish» an der Highstreet in Crickhowell. Sie ist Teil des neunköpfigen Gremiums, das die Fair-Tax-Initiative gestartet hat. Während Emma Bücher in die Regale einreiht und mit Walter Scotts «Waverley» und Marion Zimmer Bradleys «Nebel von Avalon» jongliert, erzählt sie, wie sie durch das BBC-Filmteam erstmals von den Steuerpraktiken der multinationalen Konzerne gehört hatte. Emma hat das sicher schon 15, 20 Mal geschildert, unter anderem dem Reporter des Revolverblattes «Sun», der eines Tages mit Kamera und Notizbuch in ihren Laden gestürmt kam und wie aus der Pistole geschossen Fragen stellte, aber sie ist noch immer ehrlich erstaunt. «Facebook, Google, Amazon, Starbucks, all die grossen Player, sie bezahlen einen Bruchteil der Steuern, die wir einfachen Leute und Unternehmer berappen»: Das ist doch lächerlich, oder? «Ridiculous, isn't it?»
Als sie das erste Mal davon gehört hat, in welchem Umfang diese Unternehmen ihre Steuern am Fiskus vorbeischleusen, traute sie ihren Ohren nicht. In ihren Gesichtsausdruck mischt sich Erstaunen mit Zorn: «Diese ganze Sache sollte doch vor allem die Jungen wütend machen.» Die Jungen kümmert es allerdings nicht so sehr wie Steve. Die Säule am Market Square markiert den Beginn der Highstreet von Crickhowell, wo dieser in seinem Number 18 Café seinen Geschäften nachgeht.
Er passt nicht so ganz in das Bild der wehrhaften Bürgern Crickhowells. Neben dem Café Number 18 besitzt der Vater von sechs Kindern auch noch ein Wirtschaftsberatungsunternehmen. Steve ist kein Neuling in der Welt des grossen Geldes. Er kennt sich aus mit Zahlen und er beherrscht den Jargon der Wirtschaftsleute. Während sich die anderen, die Bäcker, Buchhändler und Optiker von Crickhowell, auf dem Parkett der Briefkastenfirmen und Steueroptimierung nur ungelenk bewegen, tänzelt Steve leichtfüssig. Und während man den Eindruck gewinnt, dass den Besitzern der Bacon-Bakery und des Abenteuershops die ganze Geschichte langsam über den Kopf wächst, hat Steve gerade erst Blut gerochen. «Es geht nicht nur darum, die Steuertricks der grossen Unternehmen offenzulegen, wir wollen auch ein Brand-Shaming durchführen», verrät Steve. Facebook, Amazon, Google und Tescos – sie sollen alle an den Pranger gestellt werden. «Auf einer Party soll niemand mehr stolz davon erzählen, dass er bei Google arbeitet.»
War es nach der Finanzkrise der gewissenlose Spekulant, der als öffentliches Feindbild herhalten musste, soll es nun jeden treffen, der auf der Unternehmens-Skala über den KMU steht: «Heroes and Villains» – hier die Guten, dort die Bösen. Das Spiel mit den Schattierungen, mit den Zwischenstufen, das überlässt Steve anderen.
Zum Beispiel Pete, Handwerker und Inhaber eines Werkzeug-Geschäfts. Petes Bude liegt etwas abseits des Zentrums, die Häuser sind hier nicht mehr ganz so schmuck, von den Fassaden bröckelt der Putz. Wer sich hierher verirrt, der ist nicht auf der Suche nach glitzerndem Weihnachtsschmuck und Flat-White-Kaffee. «Ich finde die Idee mit der Fair-Tax-Initiative gut – auf eine Art.» Petes Stirn legt sich in Falten, seine rauen Finger spielen mit einem Stechbeitel. «Aber mit ihrem Plan, die Steuertricks der Grossen zu kopieren, lassen sie sich auf das selbe Niveau herab.» Aus einer moralischen Perspektive, so Pete, der in seinem Non-Profit-Geschäft Werkzeuge aus Tansania verkauft, sei das zu verurteilen. «Nur weil alle den Hund treten, ist es nicht automatisch gut, den Hund zu treten.» Dass die Initianten des Fair-Tax-Plans vor allem Aufmerksamkeit für die Ungerechtigkeit des britischen Steuersystems wecken wollen, lässt Pete nur zur Hälfte gelten. «Wenn ich das versuchen würde, dann würde ich wahrscheinlich hinter Gittern landen.»
Als ich mit Steve, dem Ex-Militär und Kaffeehausbesitzer spreche, steht die Premiere des langerwarteten Star-Wars-Streifen wenige Stunden bevor. Begeben Sie sich mit dem Tax-Scheme auf die dunkle Seite, Steve? Steve lacht und winkt ab. Es sei wenn überhaupt höchstens ein kleiner Flirt mit der dunklen Seite. Dann erteilt mir Steve, der Ex-Special-Force-Kämpfer, eine kleine Lektion in Sachen Kriegsführung: «Wenn ich in die Schlacht ziehe, dann will ich einen grossen Stock bei mir tragen. Und wenn möglich, sollte der Stock grösser sein als derjenige meines Kontrahenten.» Der Stock, das ist in Steves Kriegsmetaphorik der Trick mit den Steuern. Die Kontrahenten, das sind die Steuerbehörde HMRC und die Politiker.
Steve, da sind sich die anderen Dorfbewohner einig, ist «quite a character». Die Bezeichnung trägt etwas Ambivalentes in sich. Ein User auf einem Internet-Forum bringt es gut auf den Punkt: «Es bezeichnet jemanden, den du gerne auf einer Party treffen würdest, mit dem du aber nicht gerne verheiratet wärst.» Samantha würde hier wohl Einspruch erheben. Die gertenschlanke, knapp 40-Jährige, Augenbrauen wie Halbmonde, ist mit Steve verheiratet. Sie führt das Number 18 Café zusammen mit ihrem Mann. Samantha, oder Sam, wie ihr Mann sie nennt, verzichtet wie Steve auf diplomatische Zwischentöne: «Es ist unfair. Das Steuersystem ist unfair. Wieso sollten grosse Unternehmen kaum Steuern zahlen, während die kleinen Geschäfte durch den Fiskus ausbluten?»
Ich frage sie, was sie von den Argumenten der PR-Manager der grossen Konzerne hält: Dass die multinationalen Unternehmen Hunderttausende Jobs generieren würden. Sam wischt meinen Einwand schneller vom Tisch als eine Starbucks-Angestellte den Tresen: «Well guess what, we create jobs too.» Und die Drohung der Teppichetagen-Vertreter, dass man halt seine Zelte abbrechen würde, wenn die Rahmenbedingungen nicht mehr gegeben seien? «Grossbritannien ist die sechstgrösste Wirtschaftsnation der Welt, Grossbritannien ist der drittgrösste Kaffeemarkt weltweit – wenn du ein physisches Produkt wie Kaffee verkaufst, gilt dieses Argument nicht mehr. Caffè Nero und Costa – die beiden anderen grossen Player auf dem Kaffee-Markt – können ihren Kaffee nicht offshore verkaufen. Sie haben ein eminentes Interesse am britischen Markt.»
Das Urteil der Gobblinschen Steuerbehörde, ob das Steuerkonstrukt von Crickhowell dem Gesetz standhält, steht noch aus. Was würde passieren, wenn es gutgeheissen werden würde? Und wollen die tapferen Geschäftsleute von Crickhowell ihre Drohung wirklich wahr machen? «Wir haben keine Absicht, offshore zu gehen und die Steuertricks tatsächlich in die Realität umzusetzen», sagt Sam. Es sei wirklich mehr eine Drohung als sonst etwas. «Wir wollen Aufmerksamkeit, wir wollen den Leuten die Augen öffnen für diese Praktiken», sagt Emma. Die Entscheidung liege letztendlich in den Händen des Finanzministers, sagt Steve. «Wenn er den Weltuntergang über seinen Kopf beschwören möchte. Nun gut.» Und freut sich auf sein eigenes kleines Gangsta's Paradise – den Stand-Off mit der Steuerbehörde.