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Über die eigene Überwachungs-Kameras im Haus ausspioniert

Die Bilder stammen alle von ungesicherten Überwachungskameras. Die Aufnahme von der Gartenterrasse wurde diese Woche in der Schweiz gemacht.
Die Bilder stammen alle von ungesicherten Überwachungskameras. Die Aufnahme von der Gartenterrasse wurde diese Woche in der Schweiz gemacht.Screenshots: Copyright by Kurt Caviezel

Schweizer stehen auf Überwachungs-Kameras für zuhause – ohne es zu merken, werden sie selbst ausspioniert

Aus Angst vor Einbrechern installieren Privatpersonen zu Hause Überwachungskameras. Oft schaut aber der Fremde mit. Denn: Das Netz ist voller ungesicherter Kameras, auf die jeder zugreifen kann.
08.08.2016, 19:3308.08.2016, 20:46
Raffael Schuppisser / Schweiz am Sonntag
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Ein Mann sitzt nackt auf der Bettkante. In den Händen hält er ein Tablet. Er streicht über den Bildschirm und liest. Hin und wieder kratzt er sich am Hintern.

Dass er dabei gefilmt wird, dürfte ihm bewusst sein. Die Kamera im Schlafzimmer muss ihm auffallen. Vermutlich hat er sie sogar selber installiert. Aus Sicherheitsgründen. Weil er auf seinem Smartphone benachrichtigt werden will, wenn er nicht zu Hause ist und sich in seinem Haus etwas bewegt. Weil er dann kurz auf dem Handy nach dem Rechten schauen will. Entgangen ist ihm wohl die Tatsache, dass nicht nur er selber in sein Haus schauen kann. Sondern jeder der will. Auch wenn er nackt dasitzt, liest und sich kratzt.

Die Sicherheitskamera streamt die Bilder live ins Internet. Sie ist ungesichert. Vielleicht wurde sie gehackt. Wahrscheinlicher aber ist, dass bei der Installation gepfuscht und vergessen wurde, ein Passwort zu setzen. Deshalb kann nun jeder in sein Zimmer glotzen.

Die Kamera, die ungewollt Einblick ins Schweizer Schlafzimmer bietet, ist kein Einzelfall. Auf dem Webportal Insecam werden allein für die Schweiz 228 ungesicherte Internet-Kameras aufgeführt, in deren Streams man sich einklinken kann. Einige sind zwar nicht mehr aktiv oder gewähren bloss den Blick auf öffentliche Plätze. Doch es gibt auch solche, die Einblick in Häuser, Vorgärten und Geschäfte gewähren.

Man kann Menschen beim Einkaufen in einem Dorfladen zuschauen. Büroangestellte beobachten, die an einem Besprechungstisch ihre Köpfe über einem Stapel Papier zusammenstecken. Man kann in ein Fitnesscenter blicken, in ein Schwimmbad, in Garagen und auf Terrassen. Auf einer liegt auch mal eine Frau, die sich im Bikini bräunt.

Mag sein, dass sich unter den zahlreichen ungesicherten Kameras in der Schweiz und auf der ganzen Welt solche befinden, die absichtlich allen zur Verfügung gestellt werden. Sei es, weil ihre Besitzer Exhibitionisten sind oder weil sie es mit dem neuen Trend zur Transparenz sehr ernst nehmen. In den meisten Fällen hat aber wohl der Käufer die Kamera falsch eingerichtet. «Mich überrascht das gar nicht», sagt der IT-Sicherheitsexperte Marc Ruef. Es sei bekannt, dass die Nutzer mit der Sicherheit im Netz sehr schlampig umgehen. «Das ist bei internetfähigen Kameras nicht anders als bei Computern und Smartphones.»

An Ironie lässt sich das kaum überbieten: Aus einem Bedürfnis nach Sicherheit installieren Menschen in ihren Häusern Kameras und schaffen Unsicherheit. Denn auf die Live-Bilder können natürlich auch potenzielle Einbrecher zugreifen und zuschlagen, wenn niemand zu Hause ist.
Screenshot der Live-Aufnahme einer ungesicherten Überwachungskamera in der Schweiz. Das Bild stammt von heute Montag.
Screenshot der Live-Aufnahme einer ungesicherten Überwachungskamera in der Schweiz. Das Bild stammt von heute Montag.

Sicherheitskameras boomen

Das Bedürfnis nach Sicherheit scheint gross zu sein. Private Sicherheitskameras erleben derzeit einen regelrechten Boom. Der Schweizer Online-Verkaufshändler Brack, zu dem auch der Grossverteiler Altron gehört, hat 2015 über 40 Prozent mehr solcher Kameras verkauft als im Vorjahr. Und die Verkäufe nehmen weiter zu. «2016 werden wir wohl die Abnahmemenge des gesamten Jahres 2015 bereits im September überschreiten», sagt eine Sprecherin zur «Schweiz am Sonntag».

Ähnlich sieht es bei anderen Elektronik-Händlern aus: Interdiscount hat in den vergangenen Monaten sogar dreimal so viele Überwachungskameras verkauft wie im Vorjahr. Digitec berichtet von «einer steigenden Nachfrage», und bei Microspot liegt der Absatz «über den Erwartungen».

Auf dem Portal Insecam sind längst nicht alle offenen Kameras der Schweiz verzeichnet. Wer selber im Netz sucht, findet noch mehr. Zum Beispiel mithilfe von Shodan, einer Suchmaschine fürs Internet der Dinge. Damit lässt sich nach Geräten suchen, die ans Internet angeschlossen sind, also auch nach Kameras. Man kann so nicht nur den Standort einer Kamera ausfindig machen, sondern auch auf ungesicherte zugreifen. In manchen Fällen kann der Voyeur die Kamera bewegen, sie von links nach rechts durch den Raum schweifen lassen und zoomen.

Shodan-Entwickler John Matherly will mit seiner Suchmaschine auf Sicherheitslücken im Netz aufmerksam machen und dazu beitragen, sie zu schliessen. Kritiker behaupten jedoch, dass der Dienst vor allem Kriminellen hilft, einfach in ungesicherte Systeme einzudringen. Shodan ist zwar nicht so einfach zu bedienen wie Google, Hackerkenntnisse braucht man dazu aber keine. Solange man sich bloss als Voyeur in die offenen Kamera-Streams einklinkt, ist auch nichts Illegales dabei. Man bricht ja in kein Computersystem ein.

«Das Anschauen frei zugänglicher Kamera-Aufnahmen lässt sich kaum verhindern», sagt Francis Meier, Mitarbeiter des Schweizer Datenschutzbeauftragten. Wer solche Aufnahmen aber ohne Einwilligung der abgebildeten Personen weiterverbreite oder gar veröffentliche, riskiere eine Klage wegen Persönlichkeitsverletzung.

Doch können solche Kameras wirklich zum Schutz der Kunden beitragen? Die Polizei findet private Sicherheitskameras nützlich, sofern sie korrekt installiert sind. «Man darf aber andere Sicherheitsmassnahmen nicht vernachlässigen, und es muss einem bewusst sein, dass man damit nicht automatisch einen Einbruch verhindern kann», sagt Barbara Breitschmid von der Kantonspolizei Aargau.

Auch der Sicherheitsexperte Ruef rät nicht grundsätzlich von solchen Kameras ab, sofern sie sauber installiert und mit einem genug starken Passwort geschützt sind. Er macht aber auch geltend, dass theoretisch jedes Computersystem gehackt werden kann, auch Sicherheitskameras. Zudem könne man nie sagen, ob der Hersteller versteckte Hintertüren eingebaut hat und so auf die Kameras zugreifen kann. «Bei vielen Produkten würde mich das ganz und gar nicht überraschen», sagt Ruef. Wen es bei diesem Gedanken schaudert, sollte vielleicht besser keine Sicherheitskamera installieren.

Einer, der schon lange mit Überwachungskameras herumexperimentiert, ist Kurt Caviezel. Allerdings nicht mit eigenen, sondern mit fremden. Seit 16 Jahren sammelt der Schweizer Netzkünstler Aufnahmen von Internetkameras. Die ersten Fotos stammen von öffentlich zugänglichen Kameras auf Aussichtpunkten oder an Strassenknoten zwecks Stauinformationen. Später kamen dann immer mehr Webcams von Privaten hinzu. «Heute stellen die Leute geradezu inflationär Kameras auf», sagt Caviezel, der für die «Schweiz am Sonntag» und watson die Bilder für diesen Artikel zusammengestellt hat.

Auf seinem Computer hat er eine Kollektion von 30'000 bis 40'000 Links zu öffentlich zugänglichen Kameras. Sie befinden sich überall: in Badezimmern, unter Sofas, in Terrarien, neben Vogelnestern und in Kühlschränken. Von Kamera zu Kamera bereist der Fotograf die Welt und blickt durchs Netz in die Privatsphäre fremder Menschen.

Süchtig nach Voyeurismus

«Mich reizt an den Bildern, dass sie monströs authentisch und völlig unbestechlich sind. Sie zeigen, was der Fall ist. Niemand verstellt sich darauf», sagt Caviezel. Aus den Bildern konzipiert er Serien und stellt sie in Museen aus. Derzeit zum Beispiel in New York am International Center of Photography und in Genf im Centre de la Photographie. Da er auch Fotos von Personen ausstellt, die gut erkennbar sind, befindet er sich in einer rechtlichen Grauzone. Doch die Kunst dürfe vieles, ist Caviezel überzeugt. Bisher habe er noch nie Probleme bekommen. «Ich warte aber auf den Moment, bis jemand eine meiner Ausstellungen besucht und sich auf einem Bild erkennt.» Er ist gespannt, was dann passieren wird.

Das Klicken von einer Kamera zur nächsten habe ein gewisses Suchtpotenzial, sagt der Künstler. Man kann das durchaus nachvollziehen, wenn man sich einmal selber in die Kameras einklinkt. Die Unmittelbarkeit hat etwas Faszinierendes. Bevor man eine Kamera anklickt, weiss man nie, was sich dahinter verbirgt. Und so zappt man sich durch Überwachungskameras wie durch TV-Sender.

Jetzt auf

Man sitzt am Mittagstisch bei einer Familie in Delhi, blickt in eine Messie-Wohnung in New York, sieht in ein Storchennest auf einem Dach in Dresden – und gesellt sich dann ins Schlafzimmer eines Mannes in der Schweiz, der nackt am Tablet liest und sich am Hintern kratzt.

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5 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Randen
08.08.2016 20:58registriert März 2014
Aufpassen! Die Links führen teilweise in private Netzwerke. Dort kann man sich alles mögliche einfangen. Davor sollten die Datenschützer eigentlich warnen.
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