Auf Twitter hat der politisch-mediale Mainstream aus Meinungsführern und Massenmedien in der Schweiz eine zentrale Orientierungsfunktion. Accounts aus diesem Spektrum haben am meisten Follower und erreichen User in unterschiedlichen politischen Communities. Trotz der zentralen Position im Netzwerk und der potenziellen Reichweite kommuniziert der Mainstream, ähnlich wie traditionelle Massenmedien, grösstenteils einseitig.
Das interaktive Element von sozialen Netzwerken wird kaum ausgeschöpft und so das Potenzial zur Mobilisierung der eigenen Follower nicht vollständig genutzt. Dies zeigt eine umfangreiche Studie, die das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich zur Debatte über die Energiestrategie 2050 auf Twitter veröffentlicht hat.
Twitter-Netzwerke können auf Basis von statischen Follower-Beziehungen oder dynamischen Kommunikationsflüssen entstehen. Follower-Netzwerke sind relativ stabil und verändern sich nur langsam. Je näher sich zwei Nutzer in einem solchen Netzwerk sind, desto ähnlicher sind sie sich, nach dem Prinzip «birds of a feather flock together». Die Ähnlichkeit kann auf Interessen, geographischer Nähe oder wie im aktuellen Fall auf der politischen Einstellung basieren.
In unserem Follower-Netzwerk sind alle Beziehungen zwischen den 4694 Usern abgebildet, die sich in den letzten sechs Wochen mindestens einmal zur Energiestrategie über einen Tweet, Retweet oder Reply geäussert haben. Insgesamt wurden 32’372 Tweets erfasst.
Die einzelnen User werden mit Hilfe eines Machine-Learning-Algorithmus in unterschiedlichen Communities zusammengefasst. Je grösser der Name in der Grafik, desto mehr Follower hat ein User innerhalb dieses Netzwerks. Das Follower-Netzwerk für die #ES2050 ist ein für die Schweiz typisches dichtes Netzwerk mit vier zentralen Communities.
Die grösste Community bildet der politisch-mediale Mainstream (violett; 1966 User). Darin befinden sich User wie der NZZ-Account, die viele Follower aufweisen und daher ein hohes Mobilisierungspotential besitzen. Zum Mainstream, wenn auch näher bei der Peripherie, gehören aber auch User wie die Nationalräte Christian Wasserfallen (@cwasi) und Balthasar Glättli (@bglaettli), die im Abstimmungskampf entgegengesetzte Positionen vertraten.
Die Rechtskonservativen (gelb; 987 User) und ihr Gegenstück, die Links-Grünen (grün; 752 User), bilden die beiden peripheren Communities. Einzig die Westschweiz und das Tessin sind ein wenig isolierter als die anderen Gemeinschaften (blau; 989 User).
Die einzelnen Accounts können durch ihre Nähe zu den Communities genauer verortet werden. Der Account der «Wochenzeitung» (WOZ) ist zum Beispiel stärker mit der links-grünen Community verbunden, während die NZZ näher bei rechtskonservativen Community liegt. watson befindet sich relativ zentral.
Eine hohe Anzahl Follower sagt noch nichts über das Diskussionsverhalten aus. Das Reply-Netzwerk hingegen zeigt nur die Verbindungen zwischen Usern auf, die direkt über Replies angeschrieben wurden. Je grösser der Name erscheint, desto mehr Rückmeldungen erhielt ein User.
Die Diskussion zur #ES2050 wurde nicht von den Akteuren im Zentrum, sondern jenen der Peripherie dominiert. Über ein Drittel der Replies wurden zwischen der rechtskonservativen und der links-grünen Community verfasst.
Erstaunlich ist dieser Befund im internationalen Vergleich: In den USA gibt es eine viel stärkere Polarisierung und praktisch keinen Austausch zwischen politischen Gegnern. Die Mainstream-Community weist nur wenige Replies auf, davon sind fast die Hälfte intern (49 Prozent). Für die Schweiz zudem relevant: Es gibt fast keinen Austausch über den «Röstigraben».
Das Netzwerk auf Basis der Retweets zeigt, wer am meisten Wirkung mit seinen Tweets erzeugte. User, die in diesem Netzwerk gross erscheinen, wurden am häufigsten retweetet. Vor allem das Ja-Komitee konnte auf diesem Weg die Botschaften der eigenen Kampagne effizient verbreiten. Der nur temporär bestehende Campaigning-Account mit einer geringen Anzahl Follower kommunizierte somit effektiver als die Medien mit vielen Followern.
Für alle Communities gilt, dass über 50 Prozent der Retweets innerhalb der eigenen Gruppe verfasst wurden. Besonders in der rechtskonservativen Community (78 Prozent) und der Westschweiz und dem Tessin (83 Prozent) wird überwiegend intern retweetet.
Die Energiestrategie hat die beiden peripheren Communities auf Twitter stärker bewegt als den Mainstream, was bei anderen Abstimmungen nicht immer der Fall war. Trotz nur etwa halb so vielen Usern wie der Mainstream, kommen beide auf ein ähnlich hohes Volumen an Tweets.
Medien nehmen im Agenda-Setting auf Twitter für alle Communites eine zentral Rolle ein. Einerseits haben Medien-Accounts viele Follower, andererseits werden die meisten Twitter-User auch über die etablierten Medienkanäle erreicht.
Klassische Medienereignisse waren auch in der Debatte zum Energiegesetz von grosser Bedeutung. Vor allem die Veröffentlichung der Umfragen von Tamedia und SRF am 28. April und 10. Mai heizten die Debatte auf Twitter an. Am 28. April wurde die Resonanz zusätzlich durch die SRF-«Arena» in die Höhe getrieben.