Vor 500 Jahren mussten die Menschen zur Kenntnis nehmen, dass die Erde nicht flach war und auch nicht im Zentrum des Universums stand. Amerika wurde entdeckt, die Naturwissenschaften kamen langsam in Fahrt und stellten die bekannte Weltordnung in Frage.
All dies überforderte die Menschen. «Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welche Ängste die Menschen damals um ihr Seelenheil hatten, welche Furcht vor Fegefeuer und ewiger Verdammnis sie mit sich herumtrugen», stellt der Historiker Heinz Schilling im von Dietmar Pieper und Eva-Maria Schnurr herausgegebenen Sammelband «Die Reformation» fest. «Auch Luther selbst war überzeugt, dass das Ende der Welt bald kommen werde.»
Am 31. Oktober 1517 hat Martin Luther seine 95 Thesen an die Türe der Wittenberger Schlosskirche genagelt und damit den Beginn der Reformation markiert. Dass seine Botschaft sich sehr rasch verbreitete und bald die Kirche spalten sollte, hatte verschiedene Gründe:
Die katholische Kirche war degeneriert. «Nur jeder dritte Pfarrer hatte überhaupt ein paar Semester studiert, jeder zehnte lebte mehr oder weniger offen in einem Konkubinat, ein grosser Teil zeigte nicht das geringste Interesse an der Seelsorge», heisst es im Beitrag von Martin Doerry. «Viele Würdenträger hatten ihre Posten, Abteien oder Bischofsämter gekauft und kümmerten sich nur um die Ausplünderung der damit verbundenen Pfründen.»
Auch um die Moral der Kirchenvertreter stand es nicht zum Besten. Huren und Nonnen unterschieden sich nur dadurch, dass die Huren wenigstens ein schlechtes Gewissen hatten. Die Nonnen «lebten hingegen in Klöstern, die längst zu Bordellen geworden seien», wie der Strassburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg beklagte.
Der Ablasshandel war zu einer wichtigen Geldquelle geworden. Mit Spenden an die Kirche konnten die Menschen sich den Weg in den Himmel kaufen und die Leiden im Fegefeuer verkürzen. «Sobald der Gülden im Becken klingt, im Huy die Seel in den Himmel sich schwingt», lautete dazu der Werbespruch der Kirche.
Allerdings ist in der Bibel nirgends von einem Ablasshandel die Rede. Luther wandte sich entschieden dagegen und räumte auch mit der Mär der Sünde auf. Die Theologin Margot Kässmann fasst dies wie folgt zusammen: «Luther hat gesagt, auch die Sexualität und das Gebären sind eine gute Gabe Gottes, dafür braucht es keinen Ablass. Für ihn war das gute Leben im Alltag auch das gute Leben vor Gott.»
Entscheidend für den Erfolg der Reformation war der Buchdruck. Luthers Schriften wurden zu einem kommerziellen Erfolg. In Basel, Nürnberg und Leipzig liefen die Druckmaschinen heiss. «Wenige Wochen nach der ersten Niederschrift seiner Thesen war der Professor aus Wittenberg bereits ein Medienereignis, wenn auch zunächst im elitären Kreis lesekundiger Menschen», stellt Daniel Bellingfradt fest. «Damit aber begann das Öffentlichwerden seiner reformatorischen Ideen.»
Schliesslich kamen Luther die politischen Machtverhältnisse zugute. Hätte er nicht in Wittenberg gepredigt, wäre er möglicherweise als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet. Zum Glück stand er unter dem Schutz des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen. Der junge habsburgische Kaiser Karl V. konnte es sich nicht leisten, es sich mit ihm zu verscherzen.
So wurde am Reichstag von Worms 1521 zwar ein Reichsbann über Luther verhängt. Sachsen wurde jedoch davon ausgenommen. Johannes Calvin und Huldrych Zwingli profitierten davon, dass die Städte Genf und Zürich grosse Unabhängigkeit genossen.
Calvin und Zwingli zeigen auch, dass die Reformation bald in verschiedene Richtungen aufgespalten wurde. Calvin setzte dabei auf die Prädestinationslehre, will heissen: Gott hat bereits bestimmt, wer in den Himmel kommt und wer nicht. Zwingli und Luther gerieten sich ob der Frage in die Haare, ob das Abendmahl bloss symbolisch gemeint sei, oder ob sich Wein und Brot tatsächlich in Blut und Leib Christi verwandeln.
Die Reformation hat sich gegen Kaiser und Papst gewandt, sie war jedoch nie eine Revolution. Weder Luther noch Zwingli haben sich mit den Bauernaufständen solidarisiert, obwohl sich die Aufständischen auf ihre Schriften berufen haben. «Die Reformation war im Kern der Versuch, Veränderungen rückgängig zu machen, zu einem idealisierten Ursprung zurückzukehren», stellt Eva-Maria Schnurr fest.
Heute haben sich die Menschen zwar damit abgefunden, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Doch jetzt müssen wir uns fragen, ob der Mensch tatsächlich die höchste Stufe der Evolution darstellt. Software wird immer smarter und ernsthafte Wissenschaftler sprechen von einer maschinellen Superintelligenz, die dereinst die menschliche um Längen übertreffen wird.
Ob selbstgelenkte Autos oder sprechende Smartphones: Immer häufiger ersetzt künstliche Intelligenz die menschliche. Die Arbeitswelt und die Gesellschaft werden disruptiert, wie es heute heisst. Wie zu Zeiten der Reformation sind die Menschen zunehmend verunsichert und werden anfällig für Populisten mit einfachen Rezepten.
Im Jahr 1555 wurde in Augsburg ein Religionsfrieden geschlossen. Er besagte, dass jeder deutsche Landesherr entscheiden konnte, welche Glaubensrichtung in seinem Gebiet gelehrt werden durfte. Wem die Entscheidung nicht passte, der durfte auswandern. Der Frieden hielt jahrzehntelang an. Dann brach der 30-jährige Krieg aus, der unsägliches Leid über die Menschen brachte und die Bevölkerung in Europa halbierte.
Im 21. Jahrhundert ist die Religion erneut zum Zankapfel geworden. Der vom Politologen Samuel Huntington in den Neunzigerjahren angekündigte «Zivilisationskrieg» ist bereits in vollem Gange. Die Disruption nimmt immer mehr die Züge der Reformation an.