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Warum uns Wikipedia zeigt, «wie Erinnerung geht»

Warum uns Wikipedia zeigt, «wie Erinnerung geht»

Wie Flugzeugabstürze in uns einen allgemeinen Flow der Aufmerksamkeit auslösen.
07.04.2017, 08:0207.04.2017, 08:14
Christoph Bopp / Nordwestschweiz
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Wenn Flugzeuge abstürzen, erregt das Aufmerksamkeit. Man könnte sagen: Überproportional viel – wenn klar wäre, was eigentlich die Vergleichsgrösse wäre. Ist es der Umstand, dass eine grössere Zahl von Menschen auf einen Schlag und zusammen ihr Leben verliert? Fast alle sind wahrscheinlich einmal in einem Flugzeug gesessen und haben dieses Moment des Ausgeliefertseins gespürt: «Wenn wir jetzt abstürzen, wären wir alle hin.»

epa05208961 (FILE) A file photograph showing debris as search and rescue workers are at the crash site of the Germanwings Airbus A320 that crashed in the French Alps, above the town of Seyne-les-Alpes ...
Germanwings 9525 zerschellte 2015 in den Provenzalischen Alpen. Im Internet löste das den Aufruf des Wikipedia-Eintrags über American Airlines 587 aus, der 2001 nach einem Pilotenfehler abstürzte.Bild: GUILLAUME HORCAJUELO/EPA/KEYSTONE

Die vorliegende Studie in der aktuellen Nummer des Wissenschaftsmagazins «Science» beschäftigt sich zwar mit Flugzeugabstürzen, und es dreht sich um Aufmerksamkeit, aber es geht darum, wie aktuelle Abstürze die Erinnerung an frühere auslösen.

Jetzt auf

Die Medien haben das Prinzip ja bereits seit längerem verinnerlicht: Wenn immer etwas passiert, steht die Liste mit den grössten vergleichbaren Ereignissen bereits online. Von den grössten Vulkanausbrüchen bis zu den teuersten Firmenpleiten. Menschen tendieren dazu, Erinnerung in Reihen zu organisieren. Wenigstens die Medien tun das. Und sie dürften es nicht einfach so ins Blaue hinaus tun.

Erinnern wird messbar

Ruth Garcia-Gavilanes von der Universität von Oxford, Anders Mollgaard vom Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen und Milena Tsvetkova vom Alan Turing Institute London sind «Internet-Wissenschafter». Sie haben untersucht, wie Erinnerung im digitalen Zeitalter funktioniert. «Das Internet vergisst nichts.» Diesen Satz hämmert man den jungen Facebook-, Instagram- und anderen einschlägigen Usern ein. Einmal gepostet, ist kein Bild und kein Filmchen mehr zurückzurufen. Andererseits kann man den Satz auch anders drehen. Das Internet hat aus der kollektiven Erinnerung eine wissenschaftlich beobachtbare Grösse gemacht. Man kann sie messen und vergleichen.

Das Forscherteam hat interessiert, wie aktuelle Ereignisse (also ein Flugzeug, das abstürzt) die Erinnerung an vergleichbare Ereignisse auslöst. Man muss beachten, dass das englische Wort «to trigger», das wir mit «auslösen» übersetzen, in der Ursprungsbedeutung eine suggestivere, aktivere Bedeutung hat. Da schwingt immer der Abzug des Revolvers mit. Was ein Mensch tut, der sich erinnert, das kann man eben im Internet messen.

Dazu bietet sich die Wikipedia-Nutzung an. Wenn man die Google-Nutzung nach Keywords und den Aufruf von Wikipedia-Artikeln vergleicht, stellt man eine starke Korrelation fest. «Das zeigt», schreiben die Forscher, «dass die Daten des Wikipedia-Traffic reflektieren, wie sich Internet-Nutzer im Allgemeinen verhalten.»

Und was machen die jetzt? Ein Beispiel: Am 24. März 2015 steuerte der Co-Pilot den Germanwings-Flug 9525 in eine Felswand. Es gab 150 Tote. Und jede Menge Spekulationen über die Absturzursache, die vorerst nicht klar war. Am 12. November 2001 stürzte American Airlines 587 auf dem Weg nach Santo Domingo kurz nach dem Start ab. Damals starben 265 Menschen. Es war ein Pilotenfehler, eine Überreaktion des Co-Piloten, der zum Absturz führte.

Praktisch am gleichen Tag, als der erste Wikipedia-Eintrag über Germanwings 9525 gemacht wurde, stiegen die Aufrufe des Wikipedia-Artikels über American Airlines 587. Die Nutzerkurven lassen sich fast deckungsgleich aufeinanderlegen.

Ein auffälliges Muster

Natürlich kann man argumentieren, dass die Mutmassungen über die Absturzursache allein die Parallelaufrufe verursacht hätten. Aber auch andere Flugzeugabstürze zeigen ein ähnliches Muster, wenn man sie paart. Die Daten geben auch Aufschluss über die Kriterien, welche eine Rolle spielen: Jüngere werden gegenüber älteren bevorzugt, solche mit mehr Toten gegenüber solchen mit weniger; fast keine Rolle spielt, ob der Absturz auf dem gleichen Kontinent stattgefunden hat oder ob es eine Fluggesellschaft war aus dem Westen oder nicht. Wikipedia-Einträge mit ursprünglich hoher Besucherfrequenz wurden häufiger wieder aufgerufen als solche mit kleinerer. Das zeigt, dass wahrscheinlich effektiv «erinnert» wurde und nicht «gesucht». Streicht man alle Paarungen, die untereinander verlinkt waren, zeigen sich überraschenderweise immer noch ähnliche Muster.

Man kann jetzt ein bisschen spekulieren. Wie bewältigen wir als «Unbetroffene» ein desaströses Ereignis? Wahrscheinlich möchten wir irgendwie wissen, «wie es sich anfühlen würde». Fragen wir unsere Eltern oder Grosseltern, wie sie sich an die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki erinnerten, kommt häufig die Antwort: «Man war froh, dass der Krieg vorbei war.» Gemeint ist: bei uns. Die globale Tragweite des Ereignisses ging damals offenbar unter.

Diesen Impuls könnte man einen «natürlichen Erinnerungs-Trigger» nennen. Der Unterschied zu einem «kulturellen» wird offensichtlich. Hier wird Erinnerung «geformt» und «geweckt».

Wir haben das erfahren, als man sich mit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg beschäftigte. Hier entstand gar der Eindruck, «die Geschichte würde umgeschrieben». Oder unser Gehabe um Tell und Rütli-Schwur.

Welche Erinnerungen kamen am 11. September 2001 auf? Pearl Harbor 1941 und die Geschichte, als im Zweiten Weltkrieg ein Flugzeug ins Empire State Building krachte. (aargauerzeitung.ch)

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