Über die Zukunft eines Filmes entscheiden drei Dinge: Geld, Details und Trophäen. Zum Geld kommen wir gleich. Denn Geld ist immer kompliziert und etwas trocken. Die Trophäen sind im Idealfall vergoldet und erinnern an einen Zoo, sie heissen Löwe (Venedig), Bär (Berlin), Leopard (Locarno), doch überschattet werden sie logischerweise von einem Baum, nämlich von der goldenen Palme aus Cannes.
Die Details beginnen mit D wie Diva, Design und Dekoration, sie liegen in den wenigen kostbaren Minuten, die ein Filmstar auf einem roten Teppich verbringt. In Cannes kann eine schöne Frau in einem schönen Kleid einem Festival-Film bis zu 3000 Erwähnungen in den Medien weltweit bringen. Ganz abgesehen von der Werbung für ihren Kleider- und Schmuck-Sponsor. Zickt die Diva, so kann das für einen Film zum finanziellen Desaster werden.
Doch das eigentliche Muskelgewebe der Filmindustrie sind die Orte abseits des Glamours, sie bestehen aus Kabinen mit Bildschirmen drin und gleichen von allen Kinos am ehesten den Pornokinos. Die drei grössten unter ihnen heissen «Marché du Film», «European Film Market» und «American Film Market», sie befinden sich in Cannes, Berlin und dem kalifornischen Santa Monica.
Erst über einen Markt kommt der Film vom Produzenten zum Verleiher und schliesslich zu seinem Publikum. Was nicht bedeutet, dass sich dieses Publikum in Kinosälen findet, viele Filme landen gleich auf DVD oder im Fernsehen. 2013 wurden in Cannes 5364 Filme (15 Prozent mehr als 2012) auf dem Markt angeboten, 850 davon waren Dokumentarfilme (35 Prozent mehr als 2012). Bereits vollendet waren allerdings erst 3100, der Rest war noch Projekt. Viele dieser Filme und Projekte bleiben liegen und werden von ihren Produzenten auf einem andern Festival weiter angeboten. Es gilt die Regel: Wenn sechzig Prozent der Filme einen Verleiher finden, war es ein guter Jahrgang.
2013 war der Amerikaner Harvey Weinstein der grosse Chefeinkäufer. Weinstein, der sich schon die US-Rechte am diesjährigen Eröffnungsfilm «Grace of Monaco» gesichert hat, gilt als König und Playboy von Cannes: in früheren Jahren, so erzählt er gerne, hätten er und der monegassische Prinz Albert sich jeweils während des Festivals recht schamlos mit zwei Schwestern vergnügt. Letztes Jahr sicherte er sich die amerikanischen, kanadischen und spanischen Verleih-Rechte an Stephen Frears noch unvollendeter «Philomena» für 6,5 Millionen Dollar. Und dies, nachdem er nur 7 Minuten davon gesehen hatte.
Als «Philomena» dann im Herbst im Wettbewerb von Venedig lief, sorgte Hauptdarstellerin Judi Dench international für eine derartige Welle hymnischer Zuneigung, dass auch der Kinostart perfekt eingeleitet war. Es folgte eine Oscar-Nomination, Harvey Weinsteins Rechnung war blendend aufgegangen, der Film spielte allein in den USA gut 38 Millionen Dollar ein. Für eine Arthouse-Produktion ist dies mehr als respektabel. Im Vergleich: «La vie d’Adèle», der Cannes-Gewinner 2013, spielte bisher weltweit 7,3 Millionen Dollar, davon 2,1 in den USA ein.
Ganze 25 Millionen Dollar investierte Weinstein letztes Jahr an der Côte d’Azur in «Passengers», eine Science-Fiction-Romanze von TV-Regisseur Brian Kirk («Game of Thrones», «Boardwalk Empire») mit Reese Witherspoon und Keanu Reeves. «Passengers» soll 2015 in die Kinos kommen. Nicht bekannt ist die Summe, die Weinstein für Todd Haynes’ «Carol» aufwarf, es ist dies die Verfilmung eines Patricia-Highsmith-Romans über eine lesbische Liebe in den 50er-Jahren mit Cate Blanchett und Mia Wasikowska. Auch sie soll 2015 anlaufen.
Es lohnt sich, den Fall Todd Haynes etwas genauer zu betrachten. Todd Haynes dreht nämlich mit «Carol» zum ersten Mal seit seinem Bob-Dylan-Essay «I’m Not There» (2007) wieder fürs Kino. Haynes hatte sich nämlich zwischen Dylan und «Carol»ganz dem Fernsehen zugewandt, er war abgestossen und frustriert von der Risikofeigheit und der Geldgier der Hollywood-Studios.
Erholt hat er sich bei HBO, jenem Hafen für die von Hollywood verwundeten Künstlerseelen: Todd Haynes, Agnieszka Holland und gelegentlich sogar Martin Scorsese. Haynes hatte seine HBO-Ära 2011 mit dem spektakulären Fünfteiler «Mildred Pierce» eröffne. Mit der Verfilmung eines jener Bestseller aus den 40er-Jahren also mit einer schwarzen Seele und einer fallenden Heldin. HBO gab ihm Kate Winslet, alle Freiheit und für die ganze Serie ein Budget von 20 Millionen Dollar, also gleich viel, wie er für «I’m Not There» zur Verfügung gehabt hatte.
An den Einschaltquoten gemessen (rund 1 Million HBO-Abonnenten schauten zu), hat sich «Mildred Pierce» nicht rentiert, aber es trieb den Ruf von HBO als qualitativ bestes und künstlerisch mutigstes Atelier unter Amerikas Bezahlsendern noch einmal in die Höhe. «Mildred Pierce» wurde 2011 am Filmfestival von Venedig gezeigt, genauso wie Jane Campions für die BBC und den Sundance-Channel entstanden Serie «Top oft the Lake» an der Berlinale 2013. Die Oscar-und-Goldene-Palme-Preisträgerin Jane Campion ist heuer Jury-Präsidentin von Cannes. Und Anna Paquin, die dank Jane Campions «The Piano» als Zwölfjährige einen Oscar gewann, spielt seit 2008 für HBO die Hauptrolle in der Vampir-Fantasy-Serie «True Blood».
Sender wie HBO und Robert Redfords Sundance-Channel haben also den Autonomieanspruch des amerikanischen Autorenkinos gerettet. Und Hollywood gezeigt, dass seine finanzgesteuerte Verzagtheit fehl am Platz war. Dass man sein Publikum niemals für dumm verkaufen sollte. Die Folge: Filme wie «Zero Dark Thirty», «American Hustle», «Silver Linings Playbook», «August Osage County» oder «Gravity» entstanden und hatten Erfolg. Weil das Publikum durch die TV-Serien zu einer andern Erzählweise erzogen worden war. Genauer, komplexer, verrätselter, experimenteller.
Doch nicht nur kreativ ruht in den Serien das gleiche, wenn nicht grössere Potential als im Film, sondern zunehmend auch wirtschaftlich. HBO beispielsweise gehört dem serbelnden Konzern Time Warner, der weder mit Musik noch mit Filmen – eine Ausnahme ist 2014 «The Lego Movie» – mehr allzu grosse Geschäfte macht. HBO ist mit seinen derzeit gut 90 Millionen Abonnenten weltweit nicht nur der grösste Bezahlsender überhaupt, im ersten Quartal 2014 machte HBO laut «Forbes» gut 28 Prozent des Unternehmenswerts von Time Warner aus. Es könnte also gut sein, dass Hollywood-Filme bald von TV-Serien querfinanziert werden.
Unter den Buchmachern von Cannes ist dieses Jahr übrigens kein Starvehikel der Favorit, sondern der Film eines Regisseurs, der selbst intimsten Barnchenkennern unbekannt ist: von David Robert Mitchell. Ein Teenie-Horrorfilm mit Kunstanspruch, Kult- und Mainstream- Potenzial. Alle sind gespannt, wer zuerst sein Portemonnaie zückt und wie prall gefüllt dieses ist. Vielleicht gehört es ja wieder einmal Harvey Weinstein. «It Follows»