Die hohen Lavafontänen sind mittlerweile versiegt, und die Erdspalte, die vor rund zwei Monaten im Holuhraun-Gebiet auf einer Länge von 1.8 Kilometern aufgerissen war, hat sich weitgehend wieder geschlossen. Nur noch der zentrale Schlot ist aktiv: Um ihn herum türmt sich ein Krater, in dem ein glühender See brodelt. Schätzungsweise 300 Kubikmeter werden pro Sekunde zu Tage befördert. Pro Tag entspricht das dem Volumen eines Wolkenkratzers, der auf der Fläche eines Fussballfelds rund dreieinhalb Kilometer in den Himmel ragt!
Unermüdlich fressen sich Lavazungen Richtung Norden, machen weder vor Strassen noch Gletscherflüssen Halt – das Gebiet ist jedoch unbewohnt. Neuste Vermessungen zeigen, dass sich das haushohe Lavafeld mittlerweile auf einer Fläche von 61 Quadratkilometern erstreckt. Manhattan hätte darin zweieinhalb Mal Platz.
Diese immensen Dimensionen bleiben vor Ort abstrakt. Die Lava ist am Rande des Feldes zwar noch warm, aber grösstenteils erstarrt. Nur an vereinzelten Stellen wälzt sich frisches, zähflüssiges Material vorwärts, begleitet von einem Geräusch, das an ein gläsernes Windspiel erinnert. Überall dort, wo die heissen Massen auf Wasser treffen, steigen Dampfsäulen auf.
Die Luft flimmert, ist angenehm warm und macht die eigentlichen, beissend-winterlichen Wetterbedingungen vergessen. Der Abendhimmel über der Ausbruchsstelle hat den Charakter eines ultimativen Sonnenuntergangs. Insbesondere im Vergleich mit den Bildern, die zu Beginn des Ausbruchs um die Welt gingen, mutet die aktuelle Szenerie fast schon idyllisch an.
Der Schein trügt: «Ausschlaggebend ist, was unter der Erdoberfläche passiert», sagt der renommierte isländische Vulkanologe und Geochemiker Haraldur Sigurdsson gegenüber watson. Und tatsächlich geht in der Magmakammer Unvorstellbares ab: Rund 30‘000 Erdbeben wurden seit Mitte August im Gebiet registriert. Nach wie vor kracht es zwischen 70 und 100 Mal pro Tag – nicht selten mit der Stärke 4 oder 5 auf der Richterskala. Derzeit sind wieder vermehrt seismische Aktivitäten unter dem Zentralvulkan Bardarbunga auszumachen, der südlich der aktuellen Eruptionsstelle liegt und mit dieser unterirdisch verbunden ist (hier geht’s zur tagesaktuellen Erdbebenkarte).
Der Holuhraun-Ausbruch ist beispiellos, was die Aufzeichnungen durch die Wissenschaft betrifft. Dutzende Messstationen verschiedenster Funktion wurden mittlerweile installiert, Drohnen schweben über den Krater, haargenau wird Protokoll geführt. Vor einigen Tagen hat Haraldur Sigurdsson die GPS-Daten der Caldera-Absenkung ausgewertet und das Ende der Eruption auf den 4. März 2015 prognostiziert (die tagesaktuellen GPS-Daten gibt’s hier). Seine Kollegen mögen sich da weit weniger stark aus dem Fenster lehnen – aber in zwei Punkten ist man sich einig: Anfänglich hatte niemand mit einem so lange andauernden Ereignis gerechnet.
Und: Würde die Eruption nun tatsächlich auf den Bardarbunga übergreifen, der unter der 800 Meter dicken Eisschicht des grössten isländischen Gletschers Vatnajökull liegt, wäre mit einer unberechenbaren, sicher aber zerstörerischen Flut und starkem Asche-Auswurf zu rechnen. Erinnerungen an das Frühjahr 2010 werden wach, als der Ausbruch des Eyjafjöll (unter dem Gletscher Eyjafjallajökull) ganze Landstriche verwüstete und mehrere Tage lang den Flugverkehr in Nord- und Mitteleuropa lahmlegte.
Das Amt für Bevölkerungsschutz hat die Ausbruchsstelle zur Sperrzone erklärt. An den Zufahrtsstrassen zum grossräumigen Gebiet, in dem sich auch das im Sommer bei Touristen sehr beliebte Ausflugsziel Askja befindet, hat die Polizei Posten errichtet. Passieren darf nur, wer – wie wir – eine offizielle Erlaubnis hat und entsprechend ausgerüstet ist.
Die Isländer lieben ihre Vulkane ... heiss! Und so sind viele über die Massnahmen der Behörden verärgert: «Das gab es noch nie. Ich habe jede Eruption seit 1980 vor Ort miterlebt. Dass wir uns jetzt mit Webcam-Impressionen begnügen sollen, ist eine Beleidigung», empört sich etwa der 40-jährige Familienvater und Vulkan-Fan Gunnar in einem Reykjaviker Café.
«Sobald genug Schnee liegt, gerät die Situation für die Polizei ausser Kontrolle. Man wird von allen Seiten mit Skitöffs ins Gebiet vordringen können», weiss er. «Ich werde mit meinen Kindern hinfahren.» Der Isländer kramt sein Smartphone hervor: Strahlend zeigt uns Gunnar Fotos von der Fimmvörduhals-Eruption im März 2010, die von einem regelrechten Volksfest am Kraterrand zeugen.
Noch haben die Behörden die Lage beim Holuhraun im Griff. Beinahe täglich fangen die Patrouillen illegale Eindringlinge ab, eskortieren sie aus der Sperrzone und auf den Polizeiposten. Auch die sozialen Medien werden beobachtet: Anfang Oktober etwa sorgte der Fall der Kasachin Goga Ashkenazi für Aufsehen. Der von ihr gecharterte Hubschrauber landete unerlaubt neben dem Lavastrom, wo die Unternehmerin und Mode-Ikone mit ihrer Entourage einen Tanz aufführte.
Den Handyfilm davon stellte sie auf Instagram, was der Staatsmacht nicht verborgen blieb. Eine hohe Busse war die Folge, welche die Multi-Milliardärin jedoch nicht sonderlich beschäftigt haben dürfte. Zwar hat Ashkenazi das Video mittlerweile von ihrem Account entfernt, aber YouTube vergisst nicht.
Dass die Sperrzone nicht einfach bloss Schikane ist, zeigt sich vor Ort sehr schnell. Es ist vordergründig weder die Lava noch die Seismik, die die Situation so gefährlich machen, sondern etwas, das man nicht sehen kann: «Neben Wasserdampf und anderen Gasen drängen zurzeit täglich 20 bis 60 Tonnen Schwefeldioxid (SO2) aus den Bodenspalten. Im August wurden sogar Spitzenwerte von bis zu 100 Tonnen verzeichnet», erklärt Thorvaldur Thordarson.
Der Direktor des Erdwissenschaftlichen Instituts der Universität Reykjavik wird deutlicher: «Das sind historische Dimensionen. An den Jahrtausendausbruch an der so genannten Laki-Spalte 1783/84 kommt die aktuelle Eruption aber nicht heran». Zum Glück. Denn damals starben aufgrund des Säurenebels ein Viertel der isländischen Bevölkerung und weit über die Hälfte aller Nutztiere. Auch auf dem Kontinent waren Tausende Tode zu verzeichnen – hauptsächlich wegen des durch die Luftverschmutzung extrem kalten Winters und resultierender Missernten.
«Holuhraun ist 20 bis 30 Mal kleiner als Laki», schätzt Sigurdsson. Dennoch machen die Gasschwaden Island derzeit stark zu schaffen: Viele klagen über Atemwegsprobleme, und da sich Schwefeldioxid mit Wasser zu Säure verbindet, hinterlässt der Dunst am Lack der Autos oder landwirtschaftlichen Geräten bleibende Spuren. Keine Nachrichtensendung vergeht, ohne dass irgendwo auf der Insel drastisch erhöhte Werte vermeldet werden. Sonne und Mond erscheinen bisweilen hinter dem Dunst gespenstisch in blutrot.
In unmittelbarer Nähe der Ausbruchsstelle kann die Schwefeldioxid-Konzentration sogar tödliche Ausmasse annehmen. Auf allfällig prognostizierte günstige Winde kann man sich jetzt, da der strenge isländische Winter langsam Einzug hält, nicht mehr verlassen. Die Situation kann sich innert Minuten komplett verändern. Gasmaske und Schwefeldioxid-Messgerät sind also ein Muss. Und so verlassen wir die «Hölle» am Abend trotz aller Faszination zumindest insgeheim auch mit einer grossen Portion Erleichterung darüber, dass alles glimpflich verlaufen ist.
Die Isländer wären übrigens keine Isländer, wenn sie nicht bereits dem nächsten Ausbruch entgegenfieberten – und einige verbinden das sogar mit Geschäftsideen. Der bereits zitierte Vulkan-Fan Gunnar etwa träumt von einer baldigen «Baby-Eruption» im geothermalen Gebiet zwischen dem internationalen Flughafen Keflavik und Reykjavik. «Die perfekte Touristenattraktion: Wir könnten die Gäste mit dem Car zunächst direkt zum Vulkan fahren und dann zum entspannenden Bad in der ‹Blauen Lagune›.»
Handfestere Pläne schmiedet Bauer Villi im Nordosten der Insel. In Mödrudalur, dem letzten gut erschlossenen Ort vor dem Hochland, betreibt er neben seiner Farm auch ein Gästehaus – und baut gerade einen Helikopter-Hangar, damit er Rundflüge zur Holuhraun-Eruption anbieten kann. Solche gibt es zwar bereits ab Reykjavik und Akureyri, doch es gibt auch Wartelisten, und die Preise sind aufgrund des langen Anflugweges quasi astronomisch hoch. «Unser Ausgangspunkt wird um ein Vielfaches günstiger sein», erklärt Villi. Doch was, wenn die Eruption bald zu Ende geht? «Nicht weiter tragisch», lacht der findige Bauer, «die Geschichte wiederholt sich».