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ETH-Forscher haben eine Maschine entwickelt, mit der man seine Erinnerungen wiedererleben kann

ETH-Forscher haben eine Maschine entwickelt, mit der man seine Erinnerungen wiedererleben kann

Mit der Erinnerungsmaschine der ETH Lausanne kann man Erfahrungen wiedererleben und teilen. Das könnte die Psychiatrie revolutionieren, aber auch unser aller Leben verändern.
30.03.2015, 15:01
RAFFAEL SCHUPPISSER / schweiz am sonntag
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Ein Artikel von Schweiz am Sonntag
Schweiz am Sonntag

Teilen ist en vogue. Wir teilen Fotos auf Facebook, Nachrichten auf Twitter und Videos auf YouTube. Doch geht es nach Jamil ElImad, werden wir bald noch viel Intimeres teilen: unsere Erinnerungen. «Unseren Freunden erzählen wir von unseren Erlebnissen und zeigen ihnen Fotos. Wie viel cooler wäre es doch, wenn wir ihnen unsere Erinnerungen direkt zugänglich machen könnten?», fragt der Computerwissenschafter. Statt auf eine Antwort zu warten, fährt er fort: «Wir machen das möglich.»

Kaum habe ich auf einem der Ledersessel in seinem Büro Platz genommen, bittet er mich, wieder aufzustehen. «Kommen Sie, ich zeige es Ihnen», sagt der gebürtige Libanese und führt mich in das Technik-Labor.

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Hier setzt er mir eine Art Skibrille auf, in die aber kein Glas eingesetzt ist, sondern ein Display. Darauf werden zwei perspektivisch leicht versetzte Bilder dargestellt – eines fürs rechte und eines fürs linke Auge. So entsteht ein räumlicher Eindruck. Ich sehe damit ins Nebenzimmer, wo eine aus mehreren Linsen zusammengesetzte Panoramakamera steht, deren Bild direkt auf meine Brille übertragen wird. Drehe ich den Kopf, kann ich mich im Raum umschauen.

Der Körper wird ins Sichtfeld übertragen.
Der Körper wird ins Sichtfeld übertragen.Bild: Getty Images Europe

So weit, so gut – das kennt man von anderen ähnlichen Projekten. Das Verblüffende hier aber: Auch mein Körper ist da. Ich sehe meine Hände. Etwas dunkel zwar, aber doch klar erkennbar als meine Hände – sogar die Lebenslinien sind sichtbar. Aufgenommen werden sie von einer Infrarotkamera auf der Brille und von da in mein Sichtfeld übertragen. Ich bin nun quasi an einem anderen Ort. Nun betritt El-Imad, der vorher noch neben mir stand, den Nebenraum. Er grüsst mich, ich höre ihn über Kopfhörer. Er beginnt zu erzählen: «Stellen Sie sich vor, die Kamera wäre am Helm eines Bergsteigers angebracht, während er eine Wand hinaufklettert. Sie würden nun seine Erfahrung miterleben.»

Reality Substitution Machine, Wirklichkeitsersatz-Maschine, nennt El-Imad das Projekt. Nächste Woche will er es am Wissenschaftskongress Brain Forum in Lausanne Forscherkollegen und Journalisten präsentieren. Es ist ein Projekt, für das Spezialisten aus dem Feld der Virtual Reality – so nennt man diese Art von Computersimulation – mit Hirnforschern zusammenarbeiten. El-Imad glaubt fest an das kommerzielle Potenzial der Maschine. Die Film-Industrie werde Geschichten nicht mehr bloss erzählen, sondern erlebbar machen. Touristen könnten damit an entlegene Orte reisen, die sie sonst nie erreichen würden. Und eben: Jeder könne damit einmal seine Erfahrungen wiedererleben und teilen.

Mit der Brille könnte man hautnah miterleben, wie jemand einen Berg besteigt. 
Mit der Brille könnte man hautnah miterleben, wie jemand einen Berg besteigt. bild: shutterstock

Zuerst dürfte die Maschine aber in der psychiatrischen und neurologischen Forschung eingesetzt werden. Aus dieser Idee heraus entstand das Projekt auch an der ETH Lausanne, wo es derzeit am Center for Neuroprostetic weiterentwickelt wird. Massgeblich daran beteiligt ist Bruno Herbelin. Seit rund zwei Jahrzehnten beschäftigt sich der Computerwissenschafter mit dem Nutzen von Virtual Reality in der Verhaltenstherapie. «Es zeigt sich ein klar positiver Effekt bei der Therapie von Phobien und Angststörungen wie posttraumatische Belastungsstörungen», sagt der Forscher.

In der virtuellen Welt können die Patienten ihren Ängsten begegnen, ohne dass ihnen dabei die gefürchteten realen Konsequenzen drohen würden. Spinnen können auch hier bedrohlich wirken, doch im Wissen, dass sie nicht real sind, lassen sie Arachnophobiker näher an sich heran. Abgründe wirken auch hier tief, doch Patienten mit Höhenangst trauen sich hier den Blick nach unten zu. Die so gewonnenen Erfahrungen helfen, um mit vergleichbaren Situationen in der Realität umzugehen.

Angst vor Spinnen könnte schon bald der Vergangenheit angehören.
Angst vor Spinnen könnte schon bald der Vergangenheit angehören.Bild: shutterstock

«Da es uns nun gelingt, den Körper in die virtuelle Realität zu integrieren, dürfte der Effekt noch grösser sein», ist Herbelin überzeugt. Mehr noch: In Zukunft möchten die Forscher den Körper des Nutzers auch verändern können. Magersüchtige etwa können so mit verschiedenen Körpererfahrungen konfrontiert werden, um ihr gestörtes Verhältnis zu ihrer Figur zu erfassen. Und Menschen mit amputierten Gliedern können ihren Phantomschmerz therapieren, indem man ihren Körper in der virtuellen Realität rekonstruiert. Aufgrund von ähnlichen Forschungsexperimenten wisse man, dass so der Phantomschmerz gelindert werden könne, sagt Herbelin. Dabei halte der positive Effekt über die Dauer der Behandlung hinaus an.

Doch Herbelin und seine Kollegen erhoffen sich durch die Reality Substitution Machine auch neue Erkenntnisse für die Hirnforschung. Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit jemand einen Körper als seinen eigenen wahrnimmt? Lassen sich Symptome von Schizophrenie simulieren, indem man Wahrnehmungen in der virtuellen Realität verzögert oder verschoben darstellt? Und kann man diese Erkenntnisse nutzen, um die Krankheit besser zu verstehen? Mit solchen Fragen wollen sich die Forscher beschäftigen.

Die Erinnerungsmaschine könnte neue Erkenntnisse für die Hirnforschung liefern.
Die Erinnerungsmaschine könnte neue Erkenntnisse für die Hirnforschung liefern.Bild: shutterstock

Für ihre Reality Substitution Machine verwenden die Forscher eine Brille des Start-ups Oculus VR, das letztes Jahr für 2,3 Milliarden Dollar an Facebook verkauft wurde. Für dieses Jahr wird eine verbesserte Version des Produkts erwartet. Das Wissensmagazin «New Scientist» hat die Lancierung der Brille in seine Liste mit den wichtigsten Ereignissen für Wissenschaft und Technik des Jahres 2015 aufgenommen. Zu diesen Ereignissen gehören der Kampf gegen Ebola und der Klimagipfel in Paris. Das zeigt, wie hoch die Erwartungen sind in die virtuelle Realität.

Kritiker warnen denn auch vor zu viel Euphorie. Noch nicht für alles ist die Technologie bereit. Die Auflösung der Brille ist noch immer ziemlich grob pixelig und die Kameras, welche für Panorama-Aufnahmen gebraucht werden, sind unhandliche Konstruktionen. Morgen werden wir unsere Erfahrungen gewiss noch nicht über eine VR-Brille teilen. Doch beschleunigt sich die technische Entwicklung – insbesondere die Miniaturisierung von Hardware – weiter wie bis anhin, wird das in absehbarer Zeit möglich sein.

Die Forscher verwenden eine Oculus-Brille.
Die Forscher verwenden eine Oculus-Brille.bild: Stefano tinti / shutterstock

Es ist also gewiss nicht falsch, jetzt schon darüber nachzudenken, wie es sich anfühlt, wenn wir nicht mehr bloss Fotos auf Facebook, sondern auch Erinnerungen über unsere VR-Brille teilen. Wir werden in den Körper unseres besten Freundes schlüpfen und dabei sein, wenn er den K2 im Himalaja besteigt. Wir werden den Sex aus der Perspektive unserer Partnerin erleben können. Und wir (oder eine zukünftige Generation) wird im Sterbebett noch einmal als kleines Kind durch eine nasse Frühlingswiese hüpfen – denn all unsere Erinnerungen können wir abspeichern und wieder erleben.

Mit dieser Thematik beschäftigt sich der deutsche Autor Benjamin Stein in seinem Science-Fiction-Roman «Replay» (2012). Der Protagonist driftet hier von Erlebnis zu Erlebnis und schaut nur noch selten im Jetzt der Realität vor- bei. Ein böser IT-Konzern weiss daraus Kapital zu schlagen. Klar. Denn unsere Erinnerungen sind etwas vom Intimsten, das es gibt.

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