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«Ohne das Jugendschiff sässe ich jetzt im Knast»

Yannick S. als 14-Jähriger auf dem Jugendschiff Salomon. Er blieb ein Jahr.
Yannick S. als 14-Jähriger auf dem Jugendschiff Salomon. Er blieb ein Jahr.bild: zvg
Interview mit ehemaligem Salomon-Matrosen

«Ohne das Jugendschiff sässe ich jetzt im Knast»

Das Kantonale Jugendamt Bern will offenbar das Jugendschiff Salomon aus dem Verkehr ziehen. Die Institutionsleiter wehren sich: Die Salomon sei für die Jugendlichen die letzte Chance. Ist das so? Yannick S., der als 14-Jähriger ein Jahr auf dem Schiff verbrachte, erzählt.
01.10.2014, 15:1211.11.2020, 12:29
Daria Wild
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Das Jugendschiff Salomon kreuzt seit 2003 auf hoher See, mit dem Ziel, schwierigen Jugendlichen neue Perspektiven aufzuzeigen. Jetzt wollen die Behörden gemäss NZZ, dass das Schiff die Segel streicht – offenbar wegen mangelnder Kontrollmöglichkeiten und Sicherheitsaspekten. Ausserdem bezweifeln die Behörden den pädagogischen Wert des Programms.

Co-Geschäftsleiter des Jugendschiffs, Mario Schmidli, verteidigte die Einrichtung gegenüber der NZZ: Die Kritiker würden die Entwicklungen ausblenden, die die Institution zuletzt durchlaufen habe. Ausserdem – so Schmidli in einem Interview mit watson – sei das Schiff oft die letzte Chance für die Jugendlichen.

Ist das so? watson hat bei einem Ehemaligen nachgefragt.

Yannick*, du warst als Jugendlicher ab Oktober 2008 ein Jahr lang auf dem Jugendschiff. Wie bist du dort gelandet?
Ich bin als Kind ständig ausgerissen. Mit sieben landete ich zum ersten Mal in einem Heim, mit zehn fing ich an zu rauchen. Ich habe mehrere Einbrüche, Sachbeschädigungen und Diebstähle begangen und ich war ständig aggressiv. Innerhalb von zehn Jahren war ich in 25 verschiedenen Heimen. Bis meine Beiständin das Jugendschiff vorschlug. Damals war ich 14 Jahre alt.

Die Einweisung in das Jugendschiff konntest du akzeptieren?
Ich habe mir schon überlegt, wieder abzuhauen, mich irgendwie allein durchzuschlagen. Aber ich dachte, ich probiere es einfach mal, ich kann nachher wieder so weitermachen wie bisher. Ich wusste ja nicht, was mich erwartete.

Jugendschiff Salomon
Das Jugendschiff Salomon richtet sich an Jugendliche, «die einen engen pädagogischen Rahmen benötigen». Jeweils ein gutes Dutzend Jugendliche und sechs bis sieben Betreuer stechen gemeinsam in See.Bild: jugendschiffe/zvg

Und was hat dich bei deiner Ankunft erwartet?
Das Schiff war in Deutschland an einer Mole angelegt, wir fuhren mit dem Auto dahin. Um zwei Uhr morgens sind wir angekommen. Also duschte ich auf dem Deck, mit kaltem Meerwasser. Am nächsten Morgen wurde ich der Crew vorgestellt und mein Gepäck wurde gefilzt. Am Anfang war es schon sehr hart, der Morgensport, die Disziplin, die Matrosenarbeiten, manchmal auch die Konflikte unter den Kameraden und mit den Betreuern. Und die Schulstunden ertrug ich kaum. Ich bin immer ausgerastet, wenn ich etwas nicht kapiert habe.

Hast du wieder versucht, abzuhauen?
Ja, zweimal, als das Schiff vor Anker lag. Beim ersten Mal wurde ich nach ein paar Stunden von der Polizei geschnappt und zurückgebracht. Beim zweiten Mal bin ich mit einem Kameraden eine Nacht und einen Tag marschiert, von Elsfleth nach Oldenburg. Ich wollte den öV nicht benutzen, weil ich Angst hatte, ich würde dann gleich erwischt. Doch dann verletzte ich mich am Fuss. Also stiegen wir in Oldenburg in einen Zug. Bevor er losfuhr, wurden wir kontrolliert. Wir hatten ja keine Billette, also ging’s wieder zurück auf das Schiff.

Jugendschiff Salomon Yannick Scheidegger und Hunde
Yannick S. betreibt heute ein Auffangheim für alte oder streunende Huskys. Von den Spenden und den Geldern, die er für die Aufnahme der Hunde erhält, kann er sich heute ein einfaches, aber schuldenfreies Leben leisten.Bild: zvg

Doch dann wolltest du auf einmal nicht mehr zurück. Du hast dreimal eine Verlängerung beantragt. Warum?
Ich war einfach noch nicht bereit, in die Schweiz zurückzukehren. Das Jugendschiff bot mir einen geschützten Rahmen, Strukturen und die Möglichkeit, von der kleinen Schweiz in die grosse Welt hinaus zu segeln. Ausserdem hat man keine Chance, den Problemen, die sich stellen, zu entfliehen, so wie ich das früher immer gemacht habe.

Wie ging es weiter nach dem Schiff?
Zur Nachbetreuung und Wiedereingliederung musste ich wieder in ein Heim: Schule, Arbeitsprogramm, Aussicht auf eine Lehre. Doch obwohl ich auf dem Schiff gelernt hatte, mit Autoritätspersonen umzugehen, schaffte ich das hier nicht. Nach etwa 12 Wochen flog ich wieder aus dem Heim und ging nach Hause. Aber auch dort hatte ich nur Ärger. Schliesslich kam ich bei Kollegen unter, wechselte alle paar Tage das Sofa. Ich war wieder nahe am Abgrund. Doch dann riss ich mich zusammen – mit Erfolg: Nach wenigen Wochen habe ich eine Lehrstelle als Matrose in Basel gefunden. Jetzt habe ich ein Haus und Land in Deutschland gekauft und ein Hundeheim aufgebaut. Ich kann mich selber finanzieren und lebe ohne Schulden.

Yannick S. beim «Einstand».
Yannick S. beim «Einstand».bild: zvg

Du sagst, das habest du dank dem Schiff geschafft. Wie?
Ja. Als ich aus dem Nachbetreuungsprogramm geflogen war, habe ich mir die Zeit auf dem Schiff in Erinnerung gerufen. Beim Segeln hast du keine Probleme, ausser du schaffst sie dir selber. Und wenn du nicht auf deine Kameraden und die Autoritätspersonen hörst, geht alles schief. Ein Ereignis ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Wir waren auf See, hatten alle Segel gehisst. Ein Kamerad und ich schoben gerade Wache. Ich hatte mich wieder mal geweigert, mich an einem Karabiner zu sichern. Plötzlich zog ein Sturm auf. Das Boot kenterte, durch eine Luke schoss Wasser ins Schiff, ich stürzte fast. Wir mussten alle zusammen anpacken, um uns und das Schiff zu retten. Da merkte ich: Man muss sich aufeinander verlassen können, und auf Autoritätspersonen hören, wenn’s drauf ankommt.

Das Schiff wird stark kritisiert. Es sei eine militärische Einrichtung ohne pädagogischen Wert. Was hältst du davon?
Ich brauchte den Drill, die klaren Strukturen. Eine militärische Einrichtung ist es deswegen noch lange nicht. Bei uns hiess es immer: Eine Hand fürs Schiff, eine Hand für dich. Uns wurde eingeprägt, dass wir uns selber nie vergessen dürfen. Wir hatten also genug Zeit, uns mit uns selber und unseren Problemen zu beschäftigen. Das Schiff ist wirklich eine gute Sache: Man kann nicht abhauen und wird viel intensiver begleitet als in einem Heim. Ich habe jetzt noch Kontakt zu einem Betreuer.

Trotzdem will das Jugendamt Bern dem Schiff die Bewilligung entziehen.
Das ist schlimm. Es war fünf nach zwölf, als ich auf das Jugendschiff kam, trotzdem habe ich es geschafft, dass ich gesund und selbständig leben kann. Wo wäre ich ohne das Schiff? Sicher nicht da, wo ich jetzt bin. Vermutlich im Knast.

*Name der Redaktion bekannt.

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23 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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papparazzi
01.10.2014 20:38registriert Januar 2014
FÜRCHTET BERN DEN ERFOLG VOM SALOMON SCHIFF?

Ein fundierter und investigativer Bericht watson. Super und weiter so!

Warum will eigentlich Bern das Schiff verbieten? Ist es eine zu grosse Konkurrenz zum staatlichen Betrieb?!? n-tu (csc)
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Nikita Schaffner
01.10.2014 21:17registriert Juli 2014
Bern möchte das Schiff loswerden?! Ich kann das nicht verstehen. Dieser Artikel hat mich sehr berührt und gleichzeitig auch stark überzeugt, dass das Schiff eine gute Sache ist. Ich wünsche, dass dieses Projekt weiterhin stand hält und Jugendlichen eine zweite Chance ermöglicht.
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