Gesellschaft & Politik

«Alkoholismus ist eine Krankheit, die einem sagt, dass man sie nicht hat»

Tabu Alkoholsucht: «Es geht nie ums Trinken an sich. Es geht immer um Gefühle, mit denen man nicht klarkommt.»
Tabu Alkoholsucht: «Es geht nie ums Trinken an sich. Es geht immer um Gefühle, mit denen man nicht klarkommt.»Bild: dpa-Zentralbild
Interview mit ehemaligem Alkoholiker

«Alkoholismus ist eine Krankheit, die einem sagt, dass man sie nicht hat»

Weniger Alkohol trinken – mit dem Vorsatz starten viele ins neue Jahr. Darunter auch Menschen, die süchtig sind. Buchautor Daniel Schreiber spricht über seinen Weg aus dem Alkoholismus.
11.01.2015, 16:4911.01.2015, 20:21
Heike LeKer / Spiegel Online
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Ein Artikel von
Spiegel Online

Viele Menschen haben für 2015 den guten Vorsatz, weniger Alkohol zu trinken. Kennen Sie das?
Daniel Schreiber: Zum Jahreswechsel habe ich mir den Vorsatz nie gemacht, aber ich habe oft versucht, kontrolliert zu trinken. Langfristig hat es nie funktioniert. Wer einmal ein Problem mit Alkohol hat, wird nie wieder zu einem entspannten Verhältnis zum Trinken zurückfinden. 

Dann sind gute Vorsätze sinnlos?
Für viele Menschen können gute Vorsätze sehr hilfreich sein. Aber wenn man abhängig ist, wird die Absicht, weniger zu trinken, ins Leere führen. Bestimmte Momente der Klarheit sind da viel wichtiger. Am Morgen nach einer langen Nacht zum Beispiel, wenn man erkennt, dass es so nicht weitergehen soll. 

Daniel Schreiber.
Daniel Schreiber.Bild: daniel-schreiber.org
Zur Person
Daniel Schreiber, 1977, ist Journalist und Literaturkritiker. Nach einer Biografie über Susan Sontag legte er «Nüchtern» vor, ein sehr persönliches Buch über Alkoholabhängigkeit. In dem Essay beschreibt er, wie das Trinken unmerklich immer normaler für ihn wurde. Und er hinterfragt unseren gesellschaftlichen Umgang mit einer Krankheit, von der viele immer noch glauben, dass sie keine ist.

Was kann ein Moment gegen unzählige Abende im Rausch bewirken?
Solche Momente können helfen, die Schicht der Selbsttäuschung zu durchbrechen. Alkoholismus ist eine Krankheit, die einem sagt, dass man sie nicht hat. Man glaubt nie, dass man wirklich ein Problem hat. Zumindest ging mir das so. Hinzu kommt unser kollektiver Selbstbetrug.

Wie meinen Sie das?
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht davon aus, dass 27 Prozent aller Deutschen an der Schwelle zum Alkoholismus stehen. Trotzdem glauben wir immer noch, dass Alkoholabhängigkeit ein Randgruppenphänomen ist. Alkoholismus ist eines der letzten grossen Tabus. Man redet einfach nicht darüber.

«Innerlich wurde ich immer unglücklicher. Von aussen aber sah es fast immer so aus, als sei alles in Ordnung.»

Warum fällt es so schwer, über Alkoholismus zu sprechen?
Weil fast alle Menschen trinken. Alkohol gehört so sehr dazu, dass wir ihn nicht mehr bemerken. Deshalb müssen wir auch die stigmatisieren, die vom Trinken krank werden. Niemand will glauben, dass er selbst davon betroffen sein kann. Lieber halten wir an der kulturellen Fiktion fest, dass nur der alkoholkrank ist, der ein paar Flaschen Wodka am Tag trinkt, morgens auf der Parkbank aufwacht und Job und Familie verloren hat.

Wie sieht Alkoholismus in unseren Breitengraden stattdessen aus?
Die meisten Alkoholiker führen ein durchschnittliches, unauffälliges Leben. Man baut sich Fassaden und funktioniert irgendwie. Viele Jahre habe ich abends eine Flasche Wein getrunken und immer mal wieder zu wilde Nächte gehabt. Innerlich wurde ich immer unglücklicher. Von aussen aber sah es fast immer so aus, als sei alles in Ordnung.

Sie fordern, Alkoholabhängigkeit noch klarer als neurologische Krankheit anzuerkennen. Spielt der eigene Wille gar keine Rolle?
Der Wille wird in diesem Zusammenhang fast immer überschätzt. Wenn man regelmässig zu viel trinkt, wird das Gehirn strukturell verändert, auf einer zellulären und biochemischen Ebene. Diese Umprogrammierung wird den Abhängigen immer dazu bringen, zu viel zu trinken, wenn er trinkt. Neurologen vergleichen das mit dem Fahrradfahren. Das funktioniert genauso automatisch, und genauso wenig verlernt man es. Der Alkoholkranke trinkt, weil er krank ist, nicht weil er zu schwach ist.

Wie haben Sie es geschafft aufzuhören?
Ich hatte eine Reihe jener Momente der Klarheit, die ich eben erwähnt habe. In der Psychoanalyse, die ich seit vielen Jahren mache, wurde mein Trinken immer wieder zum Thema. Und ich habe mich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass ein Freund Sie zu der ersten Sitzung mitgenommen hat. Wie fühlte sich das an?
Es war eine sehr berührende Erfahrung. Ich verstand plötzlich, dass es vielen Menschen genauso ging wir mir. Solche Gruppen sind unheimlich wichtig. Man muss einfach mit eigenen Augen sehen, dass es sehr viele Menschen gibt, die ein Leben ohne Alkohol führen – und zwar ein glückliches und erfülltes Leben.

Fehlt Ihnen manchmal ein Glas Wein für den Genuss?
«Nur ein Glas für den Genuss» habe ich selten getrunken, es waren eigentlich immer zwei oder drei. Das Trinken fehlt mir nicht. Im Gegenteil. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich nicht mehr trinke.

Haben Sie Angst, eines Tages doch wieder zu trinken?
Nein, aber ich habe Respekt vor der Krankheit. Seitdem ich nichts mehr trinke, hatte ich nur ein einziges Mal das Gefühl, trinken zu wollen. Das war, als ich meinen Job verloren hatte. Ich konnte in meinem ganzen Körper spüren, dass eine Flasche Wein jetzt helfen würde. Ich bin dann zu einer Freundin gefahren und wir haben darüber gesprochen. Es geht nie ums Trinken an sich. Es geht immer um Gefühle, mit denen man nicht klarkommt.

Alkoholkonsum in der Schweiz.
Alkoholkonsum in der Schweiz.Quelle: Eidgenössische Alkoholverwaltung

Sie schreiben, dass der Alkohol ihre grosse Liebe war, als sie noch tranken. Wieso sind Sie heute trotzdem glücklicher als damals?
Ich glaube, viele Leute verwechseln Glück mit Vergessen. Ich dachte damals, dass ich glücklich bin, wenn ich mich entspanne und Konflikte ausblende, die ich für unerträglich hielt. Ein Instant-Glück sozusagen. Jetzt besteht Glück für mich darin, ein erwachsenes Leben zu führen und Verantwortung für mich und die Menschen um mich herum zu übernehmen.

Was tun Sie heute, wenn die Welt Ihnen unerträglich scheint?
Ich spreche mit Freunden, gehe zur Psychoanalyse und in eine Selbsthilfegruppe, ich meditiere und mache viel Yoga. Deswegen laufe ich nicht permanent lächelnd durch die Welt. Das Leben kann scheisse und traurig sein, es kann einen glücklich oder wütend machen. Aber wenn man Konflikte angeht und sich mit seinen Gefühlen auseinandersetzt, ist es nie unerträglich.

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