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Sechs Thesen zur Zukunft der Schweiz

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Nach dem Abstimmungs-schock

Sechs Thesen zur Zukunft der Schweiz

Das Ja zur SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung ist ein epochaler Entscheid. Er wird unser Land tiefgreifend verändern. Das Ringen um die moderne Schweiz hat begonnen. 
23.02.2014, 07:5228.06.2014, 17:15
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Zwei Wochen nach der Abstimmung über die Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» ist der Pulverdampf längst nicht verraucht. Noch immer gehen die Wogen hoch, wird heftig über das Ergebnis diskutiert. Kaum ein Volksentscheid in der Geschichte der Schweiz hat die Menschen mehr aufgewühlt, nicht einmal das EWR-Nein von 1992. 

Die urbane Deutschschweiz und weite Teile der Romandie fragen sich, in welchem Land sie eigentlich leben.

Dabei zeigt sich immer mehr: Das Ja zur Initiative war nicht primär ein Votum gegen die Ausländer, sondern «ein Stinkefinger gegen den globalen Kapitalismus, gegen offene Märkte und die Zumutungen einer kosmopolitischen Welt», so die deutsche Zeitung «Die Welt».

Ausgerechnet jenes Land, das vielleicht mehr als jedes andere von der Globalisierung profitiert, will eine entfesselte, aus den Fugen geratene Wirtschaft nicht länger akzeptieren. 

Ein Entscheid von solcher Tragweite wird nicht ohne Folgen bleiben. In welche Richtung könnte sich die Schweiz der Zukunft entwickeln? Eine Auslegeordnung in sechs Thesen:

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1. Der fehlende Wille zur Durchsetzung der Initiative provoziert noch radikalere Reaktionen

Viele Kommentare der Abstimmungs-Verlierer waren geprägt von Frustration – und vom Wunsch, möglichst nichts am Status Quo zu ändern. Die Koalition der Abstimmungs-Verlierer aus dem Mitte-links-Lager und der Wirtschaft wird der Versuchung kaum widerstehen können, den schwammigen Initiativtext in diesem Sinne «umzusetzen»: So hohe Kontingente wie nötig, so wenig Inländer-Vorrang wie möglich. 

In dieser Strategie steckt Sprengstoff. Wenn das Ja-Lager das Gefühl bekommt, es werde über den Tisch gezogen, wird es sich an der Urne rächen, durch die Annahme noch radikalerer Volksbegehren wie der Ecopop-Initiative. Abwenden lässt sich ein solches Szenario nur, wenn die Gegenseite besser mobilisiert wird und die mit der Zuwanderung verbundenen Probleme angepackt werden. Das gilt besonders für das Tessin, den Mehrheitsbeschaffer für das Deutschschweizer Ja.

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2. Die Schweiz ist ein gespaltenes Land – der Umgangston wird härter

Nach dieser Abstimmung lässt es sich nicht mehr leugnen: In der Schweiz existieren zwei Gesellschaftsmodelle, die nicht miteinander kompatibel sind. Hier die weltoffene, urbane «Latte-Macchiato-Schweiz», die Zuwanderung und Globalisierung als Chance versteht. Dort die nach innen gewandte, ländliche und wachstumsskeptische «Geranien-Schweiz» mit ihrer Sehnsucht nach dem gemütlichen Kleinstaat.

Bislang war die Haltung der urbanen gegenüber der ruralen Schweiz von einer leicht überheblichen Duldsamkeit geprägt. Das ändert sich nun. Einen Vorgeschmack gibt das 10-Punkte-Programm von SP-Chef Christian Levrat, das eine Strafaktion an die Adresse der Ja-Sager darstellt. Weitere Forderungen werden folgen, etwa nach einer Revision des Finanzausgleichs. Heute profitieren die ländlichen Gebiete überdurchschnittlich vom Geld, das nicht zuletzt dank Zuwanderung erwirtschaftet wir. Während die Zentrumlasten der Städte ungenügend abgegolten werden.

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3. Der fehlende Konsens läuft auf ein Oppositions-System hinaus

Als Konsequenz aus dem erwähnten Trend wird sich die Polarisierung verschärfen. Die Situation ähnelt jener in den USA, wo das politische Klima vergiftet ist. Die Ja-Sager in der ländlichen Deutschschweiz sind eine helvetische Version der Tea-Party-Bewegung. Neben der Tendenz zur Abschottung sind sie geprägt durch ein Misstrauen gegenüber dem Staat sowie den «Eliten» in Politik, Wirtschaft und Medien.

Der politische Umgangston wird rauer, und davon dürften die Pol-Parteien SVP und SP profitieren. Die Linke wird alles daran setzen, vom Initiativ-Schock zu profitieren und ihre eher stimmfaule Basis besser zu mobilisieren. Polarisierung bedeutet aber auch, dass die Konsens-Demokratie ins Wanken gerät. Ein Wechsel zu einem Oppositions-System wird wahrscheinlicher – so schwierig dies in einem Land mit direkter Demokratie auch ist.

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4. Die SVP wird kurzzeitig profitieren, doch im Erfolg liegt der Keim der Spaltung

Man darf Christoph Blocher und die SVP nie voreilig abschreiben. Nach seiner Abwahl aus dem Bundesrat 2007 stürzten der Vordenker und seine Partei in ein Tief. Nun haben sie Rückenwind, er könnte die SVP bei den Wahlen 2015 zu einem Wähleranteil von über 30 Prozent tragen. Ein zweiter Bundesrats-Sitz kann ihr dann kaum verweigert werden. Selbst ein Blocher-Comeback scheint möglich.

Auf längere Sicht aber könnte sich die SVP ernsthafte Probleme einhandeln, denn die Spaltung des Landes steckt auch in ihr: Sie lässt sich von der national-konservativen «Geranien-Schweiz» wählen, vertritt aber eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf Globalisierung, tiefe Steuern und Gewinnmaximierung setzt und damit auf Zuwanderung angewiesen ist. Der Thurgauer Unternehmer und Ex-Nationalrat Peter Spuhler hat gegen die Masseneinwanderungs-Initiative ausgesprochen. Die Partei wird zunehmend Mühe bekunden, die divergierenden Strömungen auf eine Linie zu bringen.

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5. Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft ist zerrüttet

Das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative ist auch ein Votum gegen die wirtschaftliche Elite. Alle Parteien (ausser der SVP) sowie sämtliche Wirtschaftsverbände waren nicht imstande, der Stimmbevölkerung die Vorteile einer offenen, wirtschaftsliberalen Schweiz zu vermitteln – und das in einer Boomphase. Offenbar schwindet der Glauben in unserem Land zusehends, dass das wirtschaftliches Wachstum zum Wohl der Bevölkerung beiträgt. Arbeitnehmer sehen sich mehr und mehr als Verlierer einer globalisierten Wirtschaft. 

Die  wirtschaftliche Elite muss akzeptieren, dass ein Teil der Schweizer Bevölkerung mehr Regulierung und Sicherheit fordert und keine Exzesse mehr duldet. Das hat bereits die Annahme der Abzocker-Initiative gezeigt. Erst wenn sich die Elite wieder in den Dienst der Bevölkerung und damit auch der Realwirtschaft stellt, wird sie das Vertrauen zurückgewinnen – und die politischen Rahmenbedingungen erhalten, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. 

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6. Die Schweiz steht vor der Entscheidung: EU-Beitritt oder Alleingang?

Die Schweiz ist in Europa ökonomisch integriert. Sie wickelt rund drei Viertel ihres Aussenhandels an Gütern und Dienstleistungen mit der EU ab. Gemessen am Bruttoinlandprodukt erwirtschaften wir rund jeden dritten Franken in der EU. Die Eidgenossenschaft braucht die Union mehr als umgekehrt – auch wenn die Ja-Sager dies gerne anders sehen. Bis jetzt behandelte die EU die Schweiz als Drittstaat mit privilegiertem Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ohne Personenfreizügigkeit fällt dieses Privileg. Für die Exportindustrie ist der freie Marktzugang in die EU von existenzieller Bedeutung.

Was tun? Möglich wäre eine Neuauflage des EWR. Damit könnte die Schweiz das Recht des EU-Binnenmarktes übernehmen, aber ihre geldpolitische Autonomie behalten und weiterhin weltweit Freihandelsverträge abschliessen. Oder: Die Schweiz wagt den Schritt und wird vollwertiges Mitglied der Europäischen Union. Das Rahmenabkommen wäre hinfällig und die wirtschaftlichen Hürden würden komplett abgebaut. Noch wirkt diese Idee utopisch. Doch falls der bilaterale Weg in der Sackgasse endet, könnte sie bald Realität werden.

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