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Die Globalisierung hat zwei grosse Fehler – das Ja vom Sonntag behebt beide nicht

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Zuwanderungs-debatte

Die Globalisierung hat zwei grosse Fehler – das Ja vom Sonntag behebt beide nicht

Der Frust über eine aus dem Ruder gelaufene Globalisierung hat zum Ja zur Masseneinwanderungsinititive geführt. Die Alternative ist nicht ein nationaler Neoliberalismus, sondern eine neue, dezentrale Wirtschaftsordnung.
10.02.2014, 20:1123.06.2014, 15:02
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Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative wird zu Recht als Nein gegen die Globalisierung interpretiert. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, gilt die Schweiz doch als der Gewinnerin einer Weltwirtschaftsordnung, in der es keine Zoll- oder andere Schranken gibt. Jedes Kind lernt schliesslich, dass unser Wohlstand auf Export basiert und jeder zweite Franken im Ausland verdient wird. Wenn die SVP von einem wachsenden Widerstand des Mittelstandes gegen die Globalisierung profitiert hat, müssen wir uns zunächst fragen: Was bedeutet Globalisierung ökonomisch gesehen überhaupt?

Adam Smith, der geistige Vater der Marktwirtschaft, hat erkannt, dass das Prinzip der Arbeitsteilung der Schlüssel zur Vermehrung des Wohlstandes ist. Wenn jeder Arbeiter nur einen bestimmten Handgriff, jeder Spezialist nur das tut, was er am besten kann, dann erreicht ein Unternehmen seine höchste Effizienz. Dieses Prinzip gilt auch für die Weltwirtschaft als Ganzes. Wenn alles dort produziert wird, wo es am wenigsten Kosten verursacht, dann wird auch der Kuchen als Ganzes am grössten.

Die Dirigenten des globalen Balletts

Theoretisch gesehen ist Globalisierung somit nichts anderes als die Perfektionierung des Prinzips der Arbeitsteilung. In der Praxis hat dies dazu geführt, dass in den letzten Jahrzehnten rund um die Welt eine so genannte Supply Chain entstanden ist. Ihr Auto, dass aus rund 5000 Einzelteilen besteht, wird zwar bei einem bestimmten Hersteller wie VW, Toyota oder Renault zusammengebaut, der Motor für den Scheibenwischer stammt hingegen von einem Lieferanten aus Thailand, die Elektronik vom deutschen Spezialisten Bosch und der Airbag von der Ems Chemie.

Theoretisch gesehen ist Globalisierung somit nichts anderes als die Perfektionierung des Prinzips der Arbeitsteilung.

Während der Pionier der Massenherstellung, Henry Ford, sein Werk River Rouge noch so organisierte, dass Holz und Stahl angeliefert wurden und fertige Autos das Förderband verliessen, sind moderne Hersteller die Dirigenten eines globalen Balletts geworden. Sie sorgen dafür, dass alle Einzelteile zur rechten Zeit – «just in time», wie es in der Fachsprache heisst – angeliefert und fachgerecht zusammengesetzt werden. 

Eine globale Supply Chain muss nicht nur kunstvoll orchestriert, sie darf auch politisch nicht behindert werden. Idealerweise gibt es daher weltweit keinerlei Behinderung des Handels durch Zölle und Abgaben. Ebenso funktionieren alle Unternehmen nach dem Prinzip des Shareholder Value, sie stellen sich also total in den Dienst der Gewinnoptimierung für die Aktionäre. Sind diese beiden Grundvoraussetzungen erfüllt, dann wird die grösst mögliche Effizienz erreicht und damit der grösst mögliche Wohlstand für alle geschaffen.

Was ist mit Ungleichheit und Umweltzerstörung?

Soweit zur Theorie. In der Praxis stellen sich zwei Probleme. Erstens: Der geschaffene Wohlstand wird sehr ungleich verteilt. Ungleichheit ist heute das dominierende sozialpolitische Thema geworden, sowohl zwischen den Nationen wie auch innerhalb. Nicht nur die traditionelle Linke, auch US-Präsident Barack Obama und das Wef haben es zuoberst auf ihre Traktandenliste gesetzt. Ebenso stellt sich die oder der Angehörige des Schweizer Mittelstandes vermehrt die Frage: Was habe ich davon, dass ich für wenig Geld einen modernen Flachbild-TV kaufen kann, wenn gleichzeitig meine Wohnungsmiete und die Kosten für die Krankenkasse ständig steigen?

Der Frust über die Globalisierung ist nicht hinterwäldlerisch, er ist berechtigt.

Das zweite ungelöste Problem wird in der Fachsprache «Internalisierung der externen Kosten» genannt. Das tönt kompliziert, ist es aber nicht: Es geht ganz einfach darum, dass die dem Shareholder Value verpflichtete Wirtschaft die Schäden, die sie der Umwelt zufügt, nicht bezahlt. Das Resultat sind – wie man gerade aktuell in China beobachten kann – gigantische Umweltschäden und ein gefährliches Spiel mit der Klimaerwärmung.

Ein Zyklus neigt sich dem Ende zu

Der Frust über die Globalisierung ist nicht hinterwäldlerisch, er ist berechtigt. Selbst unter Ökonomen mehren sich inzwischen die kritischen Stimmen gegen eine auf die Spitze getriebene, so genannte Hyperglobalisieriung. Das Prinzip des freien Handels ist nicht mehr tabu. Generell breitet sich in den Wissenschaften eine Endzeitstimmung aus, das Gefühl, dass sich die Menschheit am Ende eines Zyklus befindet. 

Schauen Sie sich bloss die Titel der Sachbücher an. Sie drehen sich um Themen wie: Verwandeln wir die Welt in ein Klima-Kasino? Geht uns wegen der zunehmenden Roboterisierung die Arbeit aus? Sind wir wegen Big Data auf dem Weg in eine Cyber-Diktatur?, etc. Deshalb sei nochmals betont: Der sich ausbreitende Globalisierungsfrust hat berechtigte Ursachen. Es geht nicht darum, ihn zu verunglimpfen, es geht darum, sinnvolle Antworten darauf zu finden.

Die SVP und andere rechtskonservative Nationalisten reduzieren das Ganze auf die Ausländerfrage und den freien Personenverkehr. Die soziale Ungleichheit und die zerstörte Umwelt bleiben aussen vor. Steuern für Reiche sollen gar weiter gesenkt werden, die Klimaerwärmung wird als Hirngespenst der Linken abgetan. Zwar hat sich Christoph Blocher bisher noch nicht konkret geäussert, wie die in der Initiative geforderten Ausländer-Kontingente in der Praxis umgesetzt werden sollen.

Naturgesetz der Marktwirtschaft?

Sein Sprachrohr, Roger Köppel, hat weniger Beisshemmungen. «Natürlich geht es um ‹Lohndumping›», schrieb er in der letzten «Weltwoche». «Warum sonst soll eine wohlhabende Volkswirtschaft ihre Grenzen für ausländische Arbeitnehmer öffnen, wenn dahinter nicht die Aussicht auf billigere Arbeitskräfte lockt? Wächst das Angebot schneller als die Nachfrage, sinken die Preise. Das ist ein Naturgesetz der Marktwirtschaft, nach dem alle gutgeführten Unternehmen handeln müssen.»

Verbunden mit dem Aufruf zur Rückkehr zum Frühkapitalismus ist eine heftige Attacke auf die Gewerkschaften. Eine unheilige Allianz zwischen blauäugigen Unternehmer und bösartigen Gewerkschaften sei, so Köppel, die Ursache der Krankheit Globalisierungsfrust. Die Medizin dagegen sind schlecht bezahlte und begrenzte ausländische Arbeitskräfte und Sozialabbau. Köppel ist in bester Gesellschaft. «Da wir jetzt zu Kontingenten wechseln, brauchen wir keine weiteren, flankierenden Massnahmen mehr», twitterte der FDP-Nationalrat und Unternehmer Ruedi Noser kurz nachdem das Abstimmungsresultat bekannt war. 

Technik macht die globale Supply Chain obsolet

Die SVP reagiert somit auf die Enttäuschung über eine aus dem Ruder geratene neoliberale Globalisierung mit einer noch extremeren Form von nationalem Neoliberalismus. Konkret: Arbeitskräfte sollen billig sein, Ausländer ohne Familie einreisen, Gewerkschaften wieder verschwinden, der Staat seine Sozialleistungen auf ein Minimum reduzieren und sich möglichst aus den Angelegenheiten der Wirtschaft raushalten.

Das muss nicht sein, es gibt eine Alternative dazu. Sie heisst Dezentralisierung. Das hat nichts mit Birkenholzschuh-Romantik oder Hippie-Esoterik zu, sondern mit einem sinnvollen Ausbau lokaler und regionaler Wirtschaftskreisläufe. Die moderne Technologie ist ihm Begriff, die globale Supply Chain wieder obsolet zu machen.

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Noch vor 20 Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Dank dem 3D Printer und ähnlichen Technologien werden nicht nur Medien und Kultur von dieser Entwicklung erfasst, sondern zunehmend die reale Wirtschaft. Massenproduktion wird zu einem Auslaufmodell. Selbst komplexe Ersatzteile für Flugzeuge werden inzwischen mit diesen Technologien massgefertigt.

Die Antwort auf den sich ausbreitenden Globalisierungsfrust des Mittelstandes kann nicht der Rückzug in einen nationalen Super-Neoliberalismus sein, wie dies die SVP letztlich will. 

Die gefährlichen Geister des Nationalismus

Inzwischen ist auch der Städtebau von dieser Entwicklung erfasst worden. In Zürich wird zwischen Sihlcity und Leimbach demnächst mit dem Bau eines neuen Stadtteils begonnen. Er wird im Jahr 2020 rund 5000 Wohnungen, aber auch Arbeitsplätze, Gewerbe, Einkaufszentren, Restaurants und Clubs umfassen. Mit anderen Worten: Es entsteht eine kleine autonome Stadt mit einer eigenen Energieversorgung. 80 Prozent des Stroms werden in Kleinkraftwerken auf dem Gelände produziert, das ganze Quartier wird den strengen Normen einer 2000-Watt-Gesellschaft genügen.

Die Antwort auf den sich ausbreitenden Globalisierungsfrust des Mittelstandes kann nicht der Rückzug in einen nationalen Super-Neoliberalismus sein, wie dies die SVP letztlich will. Er löst weder das Problem der sozialen Ungleichheit noch das Problem der Umweltzerstörung und holt gleichzeitig die gefährlichen Geister des Nationalismus wieder aus der Rumpelkammer. Die Alternative zur Hyperglobalisierung ist der Aufbau einer dezentralen Wirtschaftsordnung, die keine Berührungsängste mit der technischen Entwicklung kennt und auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist. 

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