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Es ist 8 Uhr morgens, der Radio-Wetterfrosch liefert triste Prognosen: «Maximal fünf Grad und Regen», kündigt er für den heutigen Tag an. Doch der Blick aus dem Fenster des Taxis spricht eine andere Sprache. Der Himmel ist blau und die Sonne taucht den Arc de Triomphe in ihr gewohnt romantisches Licht. Es scheint fast so, als würde sich Paris alle Mühe geben, das, was vor einer Woche geschehen ist, vergessen zu machen.
Auf den Strassen ist noch kaum etwas los. Vor allem Taxis, Busse und Lieferwagen sind um diese Zeit unterwegs. Fussgänger sieht man so gut wie keine. Ob die Menschen sich noch nicht wieder aus den Häusern trauen und die Stadt den ganzen Tag über wie ausgestorben bleiben wird? Ohne dass diese Frage laut ausgesprochen werden muss, setzt der Taxifahrer an zu sagen: «Hach, das ist einfach herrlich. Samstags und sonntags ist um diese Zeit nichts los. Sie werden sehen: Das geht ruckzuck – und schon sind wir am Place de la République.»
Von dort aus ist es nicht weit zum «Petit Cambodge», zum «Carillon», zum Café «Bonne Bière», zum Restaurant «Casa Nostra» und zum «Bataclan». Hier, im 11. Arrondissement von Paris, wirkt die Stadt schon deutlich belebter. Die Schauplätze der barbarischen Ereignisse von vor einer Woche sind nicht zu übersehen. Doch die Bewohner von Paris scheinen es trotzdem zu tun.
Die meisten von ihnen laufen an den Bergen von Blumen, Briefen und Kerzen mehr oder weniger achtlos vorbei. Jene Personen, die doch kurz stehen bleiben, scheinen Touristen zu sein. Möglichst unauffällig zücken sie ihre Kamera, machen – zum Teil sichtlich geniert – schnell ein paar Fotos und gehen weiter.
«Ich habe Angst, ein trauriges Paris zu sehen», hat Fayçal Bouzid auf der Fahrt im Nachtbus gesagt. Der 26-Jährige kommt aus Algerien. Er und sein Kollege Farouk Amarouche stellen Zahnprothesen her. Aus beruflichen Gründen verbrachten sie eine Woche im deutschen Bad Säckingen, gleich an der Schweizer Grenze, nun stehen noch drei Tage Paris auf dem Programm. «Eigentlich wären wir zu zwölft gewesen. Nachdem die Anschläge letzte Woche passiert sind, haben die anderen zehn die Reise abgesagt. Sie hatten zu viel Angst vor erneutem Terror», so Bouzid.
Ihm gehe es da anders. Seine einzige Sorge bestehe darin, die Stadt, die er so sehr liebe, in Trauer zu sehen. Und auch für die anderen Reisenden ist Angst kein Thema. Monika Fries und Andrea Wespi kommen aus Luzern. Als sie gehört haben, dass es neuerdings einen Fernbus gibt, der für wenig Geld abends um 21 Uhr in Zürich losfährt und morgens um 7 Uhr in Paris ankommt, haben sie sofort gebucht. Das war, bevor die Stadt zur Zielscheibe des sogenannten «Islamischen Staates» wurde.
Den Trip zu stornieren, kam für die beiden trotzdem nie in Frage: «Unsere Familien und Kollegen machen sich schon ein bisschen Sorgen, aber wir haben keine Angst», so die jungen Frauen. Auch Sehenswürdigkeiten wie den Eiffelturm – der aktuell unter besonderen Schutzmassnahmen steht – wollen die beiden auf keinen Fall meiden. Marius Steiner, der auch mit im Bus sitzt, sieht das ganz ähnlich: «Wenn man solche Reisen absagt und sein Leben verändert, macht man doch genau das, was die Terroristen erreichen wollen.»
Obwohl die Anschläge gerade mal rund eine Woche her sind, spürt man deutlich, dass sich die Menschen nicht einschüchtern lassen wollen: Um 9 Uhr morgens herrscht in der Brasserie «La Grisette» bereits Hochbetrieb. Im stummgeschalteten Fernseher läuft Fussball, eine Gruppe von Männern steht an der Theke und plaudert. Fast schon im Minutentakt öffnet sich die Tür, Menschen kommen herein, bestellen einen Espresso, trinken diesen, verabschieden sich gut gelaunt und gehen wieder. Nathaniel Rafelana, der Besitzer des Lokals, kommt keine Sekunde zur Ruhe.
Das La Grisette befindet sich schräg gegenüber vom Café Bonne Bière und dem Restaurant Casa Nostra – also dort, wo vor einer Woche fünf Menschen auf den Terrassen kaltblütig erschossen worden sind. Rafelana war auch an diesem Abend hinter seiner Theke im Einsatz. «Als die dort drüben anfingen zu schiessen, haben wir sofort unsere Gäste reingeholt und uns hier drin verbarrikadiert», erzählt der 37-Jährige.
Bis 4 Uhr morgens waren er, seine Angestellten und rund 40 Gäste – davon viele Touristen – im Lokal eingesperrt. «Im Fernsehen und übers Internet haben wir verfolgt, was draussen los war», so der Pariser mit madagassischen Wurzeln. Man habe versucht, Ruhe zu bewahren, aber einige Leute seien in Panik ausgebrochen und hätten sich im Keller verschanzt.
Und er selbst? «Ob ich Angst hatte? Gute Frage. Das weiss ich gar nicht so genau. In dem Moment habe ich einfach funktioniert», so der Brasserie-Besitzer. Obwohl man nur aus dem Fenster schauen muss, um an die Ereignisse der letzten Woche erinnert zu werden, scheint man hier schon Abstand gewonnen zu haben.
«Am Montag und Dienstag hatten wir vielleicht alle noch ein bisschen Angst, aber dann nimmt das Leben wieder seinen Lauf», erklärt Rafelana. Seiner Meinung nach hat sich Paris dadurch nicht verändert. Die Menschen hier im Quartier gingen ganz normal raus, kämen zum Mittagessen her und nähmen auf der Terrasse Platz. «Wissen Sie, das ist eben eine französische Tradition und das Aushängeschild von Paris: Die Cafés, Bars und Bistros – zusammen mit ihren Terrassen. Das lassen wir uns nicht nehmen.»
Nach den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo» im Januar dieses Jahres sei das ganz ähnlich gewesen: «Das ist ja auch nur ein paar 100 Meter von hier entfernt gewesen. Zwei Wochen lang hat man das den Menschen angemerkt, weil alle darüber gesprochen haben und die Stimmung entsprechend angespannt war. Aber die Zeit heilt alle Wunden.»
Während der fröhliche Trubel im La Grisette seinen Lauf nimmt, gibt es im Radio nur ein Thema: Nämlich den Terror, der Europa fest im Griff hält. In Belgien herrscht an diesem Tag absoluter Ausnahmezustand und auch in ganz Frankreich ist der «Etat d'urgence» – also der Notzustand – weiterhin ausgerufen.
Doch davon ist hier tatsächlich nicht viel zu spüren. Überall Polizei und Militär? Nicht mehr als sonst auch. Menschen, die sich ängstlich umschauen oder sich anderweitig komisch verhalten? Fehlanzeige. Cafés, Geschäfte oder Touristenattraktionen, die vergeblich auf Kundschaft warten? Mitnichten. Klar ist: Die Menschen in Paris lassen sich nicht unterkriegen. Und das ist gut so.