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Die 2,3 Millionen Krim-Bewohner wollten das Paradies – stattdessen ist die Krim nach 12 Monaten in Russland ein Niemandsland

Alltag auf der Krim: Impression aus der Altstadt von Bachtschyssaraj.
Alltag auf der Krim: Impression aus der Altstadt von Bachtschyssaraj.Bild: PAVEL REBROV/REUTERS

Die 2,3 Millionen Krim-Bewohner wollten das Paradies – stattdessen ist die Krim nach 12 Monaten in Russland ein Niemandsland

Ein Jahr nach der Annexion durch Russland ist die Krim-Halbinsel abgewirtschaftet. Über 4000 Unternehmen wurden von Behörden verstaatlicht oder von privaten «Biznesmeni» aus Moskau enteignet und geplündert. Die Krim ist ein international isoliertes Niemandsland, in dem nicht einmal mehr russische Touristen Urlaub oder seriöse russische Unternehmen Geschäfte machen wollen. 
15.03.2015, 20:5727.04.2015, 17:08
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Wenn Oleg Saweljew in Moskau ins Flugzeug steigt, hat der 49-jährige Minister die Aktentasche mit dicken Geldschein-Bündeln gefüllt, um an seinem neuen Arbeitsplatz in der Krim-Hauptstadt Simferopol die Rechnungen zu bezahlen. Auf der Krim geht das nur noch mit Bargeld, das gilt auch für den Minister für Krim-Angelegenheiten. 

Die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 verletzte das Völkerrecht, weshalb die EU und die internationale Staatengemeinschaft Sanktionen gegen die Krim verfügten: Unter anderem dürfen internationale Banken, Kreditkartenunternehmen wie Mastercard und Visa, aber auch Western Union und die Postfinance auf der Krim keine Geldtransfers mehr ausführen. Und die Post kann nicht einmal mehr Hilfspakete auf die Krim senden.

Die Sanktionen kennen keine Ausnahmen. Schon gar nicht für Krim-Minister Saweljew, dessen Name ganz oben auf der Sanktionsliste steht. Und während der Rubel an Wert verliert, steigen auf der Krim die Preise für Lebensmittel und andere Gebrauchsgüter auf das Schweizer Niveau. Und das bei Löhnen und Renten, die fast so tief sind wie im ostanatolischen Hinterland. 

«Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.»
Wiktor Tschernomyrdin, früherer russischer Ministerpräsident
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Die Folgen der Krim-Annexion waren absehbar – aber niemand wollte sie sehen

Dabei waren die Folgen der Krim-Annexion auf die Wirtschaft absehbar: Russische Beamte sind seit Sowjetzeiten Weltmeister im Pläne-Schmieden. Je grösser und teurer, desto besser. Nur mit der Umsetzung hapert es. Der frühere russische Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin brachte es auf den Punkt: «Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.» 

Auf der Krim brach nach der Annexion zuerst die Landwirtschaft zusammen, weil Obst, Gemüse, Weinbau und Viehzucht naturgemäss viel Wasser brauchen. Das Süsswasser der Krim fliesst aber zu 85 Prozent vom ukrainischen Festland über den Nord-Krim-Kanal auf die Halbinsel. Und die Ukrainer machten nach der Annexion kurzerhand den Kanal dicht.  

Nord-Krim-Kanal.
Nord-Krim-Kanal.Bild: Wikipedia
Nord-Krim-Kanal, Karte.
Nord-Krim-Kanal, Karte.Bild: Wikipedia

Als Nächstes kollabierte die Lebensmittelversorgung, die vorher vom ukrainischen Festland über eine schmale Landzunge auf die Halbinsel führte. Transporte über diese international nicht anerkannte Grenze sind jetzt unmöglich. Und die alten Fähren aus Russland sind überfordert mit der Versorgung der 2,3 Mio. Krim-Bewohner, bei schlechtem Wetter sind sie oft um Tage verspätet. 

All das hätten Politiker und Militärs in Moskau wissen müssen. Aber es gibt ja Pläne für eine 19 Kilometer lange Brücke vom russischen Festland auf die Krim-Halbinsel. Um genau zu sein, sind es Pläne, dass man Pläne machen will. Der Vizepremierminister der Krim, Michail Scheremet, setzte im Sommer 2014 die Eröffnung der Brücke schon auf 2018 an und zeigte fantastische Animations-Videos mit pathetischer Filmmusik. Seither ist es aber still geworden um die Brücke.

«Kerch Strait Bridge Project»Video: Youtube/PowerRossiya
Die geplante Brücke. 
Die geplante Brücke. Bild: Wikipedia

Lebensmittelpreise wie in der Schweiz – aber nur 70 Franken Rente

Die Krim-Bewohner wollten das Paradies – bekommen haben sie eine Halbinsel, welche an die Sowjetunion der 1980er-Jahre erinnert. Eine Babuschka (Grossmütterchen) kann sich mit ihren 70 Franken Rente kein Fleisch und kaum Obst, Gemüse oder Milchprodukte leisten. Für ein Kilogramm Fleisch – mit Knochen, Sehnen und Fett dran – müsste sie 6 Franken bezahlen. Ein Kilogramm Tomaten kostet 2.50 Franken, ein Liter Milch 1.20 Franken. Ein einfacher Salat in einem Restaurant kostet 15 Franken, fast ein Fünftel ihrer Rente. 

Da bleibt der Babuschka nur die traditionelle Buchweizengrütze «Gretschka» übrig, die 1 Franken pro Kilogramm kostet. Das 250-Gramm-Mödeli Butter, das sie für die Zubereitung der «Gretschka» braucht, kostet aber schon wieder 2.20 Franken. 

«Gretschka»: Traditionelle Buchweizengrütze.
«Gretschka»: Traditionelle Buchweizengrütze.Bild: Wikipedia/Laitr Keiows

Nach der Annexion hatte der russische Präsident Putin zwar die Renten der 560’000 Pensionierten auf der Krim-Halbinsel verdoppelt und sich damit viel Goodwill erkauft. Aber durch die galoppierende Inflation und die horrend angestiegenen Lebensmittelpreise haben die Babuschka und ihre Altersgenossen nun weniger in den Händen als zuvor in der Ukraine. 

«Es ist schon erstaunlich, dass auf der Krim- Halbinsel funktionieren soll, was in sieben Jahrzehnten Sowjetunion nicht funktioniert hat.»
Ehemaliger Werft-Manager

Als erstes wurde die Schiffswerft des ukrainischen Präsidenten Poroschenko verstaatlicht

Nach der Annexion versprach Putin den Krim-Bewohnern auch zehn Milliarden Franken, mit denen die Infrastrukturen der Krim bis 2020 ausgebaut werden sollten. Durch Rubel-Zerfall und Korruption wird diese Summe aber schon in zwei, drei Jahren «aufgefressen» sein. Das Rezept des Ministers für Krim-Angelegenheiten, Oleg Saweljew: Verstaatlichung von lukrativen Unternehmen. 

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Als erstes Unternehmen wurde die älteste und grösste Werft in der Hafenstadt Sewastopol verstaatlicht, die zufälligerweise dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gehörte. Der Gouverneur von Sewastopol erklärte, «die Produktionsanlagen der Sewmorsawod-Werft sind marode und haben einen akuten Modernisierungsbedarf. Nach der Verstaatlichung planen wir, die modernste Werft Europas aufzubauen.» 

Sewmorsawod-Werft in Sewastopol. 
Sewmorsawod-Werft in Sewastopol. Bild: Sewmorsawod

Die Pläne für die Sewmorsawod-Werft liegen immer noch in Moskau und die Euphorie der Werftarbeiter ist so schnell gesunken wie die Flut. «Es ist schon erstaunlich, dass auf der Krim- Halbinsel funktionieren soll, was in sieben Jahrzehnten Sowjetunion nicht funktioniert hat», schüttelt ein ehemaliger Werft-Manager den Kopf. «Das sicherste Rezept, um ein blühendes Unternehmen zugrunde zu richten, ist die Verstaatlichung!»

Schwerbewaffnete Männer überfallen in einer filmreifen Aktion die «Jalta Film Studios»

Verstaatlicht wurden auch die legendären «Jalta Film Studios» im Süden der Halbinsel. Das «sowjetische Hollywood» war Drehort für viele grossartige Kinofilme wie den Science-Fiction-Film «Solaris» von Andrei Tarkowski. Hier wurde 1976 auch die erste sowjetisch-amerikanische Kino-Koproduktion gedreht: «The Blue Bird» mit Elisabeth Taylor, Jane Fonda und dem russischen Clown Popow in den Hauptrollen. 

«The Blue Bird» mit Elisabeth Taylor.
«The Blue Bird» mit Elisabeth Taylor.Bild: Film-Standbild
«Solaris» von Tarkowski.
«Solaris» von Tarkowski.Bild: Film-Standbild

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 privatisierte die ukrainische Regierung die «Jalta Film Studios». Danach entstanden in Jalta eine ganze Reihe preisgekrönter Kinofilme. Unter anderem «His Wife’s Diary» über die Liebesgeschichte des russischen Schriftstellers Iwan Bunin, die 2001 für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert wurde. 

Als im Frühling 2014 ein Dutzend schwerbewaffnete und maskierte Männer vor seinem Büro standen, dachte der Besitzer der «Jalta Film Studios», dass sich Komparsen in der Tür geirrt hatten. Es war aber kein Irrtum, sondern eine filmreife unfreundliche Übernahme. «Die Bewaffneten zwangen alle Mitarbeiter, sich auf den Boden zu legen und die Hände über den Kopf zu halten» erzählte der ehemalige Besitzer Sergej Arschinow nach dem Überfall. 

Russlands Kulturministerium präsentierte danach grossartige Pläne für ein umfassendes Programm zur Wiederbelebung der «Jalta Film Studios», in denen künftig die besten jungen Filmemacher aus ganz Russland ausgebildet werden sollen. Und das traditionelle «Jalta Film Festival» solle ein glamouröser Event werden, bei dem selbst Hollywood ins Staunen käme. 

Regisseur Nikita Michalkow – ein enger Putin-Freund, der zum 55. Geburtstag des russischen Präsidenten im Staatsfernsehen eine pathetische Sondersendung produzierte – will die «Jalta Film Studios» wieder zum «Hollywood der russischen Welt» aufbauen. Alle diese grossen Pläne scheitern an einem kleinen, aber nicht unwichtigen Problem: Die Krim-Halbinsel ist durch die internationalen Sanktionen zum «Niemandsland» geworden. 

«Geschäftsleute» aus Russland enteigneten auf der Krim über 4000 Unternehmen

«Umverteilung» betreiben nicht nur Minister, sondern auch «Biznesmeni» aus Moskau. Der Presseagentur «Associated Press» sind über 4000 Fälle bekannt, bei denen meist schwerbewaffnete Männer Unternehmen und Immobilien an bester Lage ohne Rechtsgrundlagen «beschlagnahmt» haben. 

Die New York Times berichtet von unfreundlichen Übernahmen im Wert von über 1 Milliarde Franken innert wenigen Wochen nach der Annexion durch Russland: Banken, Hotels, Schiffswerften, eine riesige Farm mit 34’600 Hektar Land, ein Tankstellen-Netz, die grösste Industriebäckerei «KrimChleb» (Krim-Brot) und der wichtigste Milchprodukte-Produzent der Krim gehören nun «Biznesmeni» aus Moskau. 

Verstaatlicht: «KrimChleb».
Verstaatlicht: «KrimChleb».Bild:  KrimChleb
Leere Regale bei den Milchprodukten. 
Leere Regale bei den Milchprodukten. Bild: Twitter

«Nichts wurde von Behörden verstaatlicht oder von Privaten beschlagnahmt», widerspricht der Präsident des Parlaments der Autonomen Republik Krim, Wladimir Konstantinow, «das sind nur Zwangsrücknahmen.» Ein Euphemismus. Und Konstantinow glauben auf der Krim nicht einmal die glühendsten Patrioten, nachdem er in den 1990er Jahren mit betrügerischen Immobiliengeschäften über 100 Millionen Franken Gewinn machte. 

«Für die Krim wird die neue Brücke eine Lebensader sein, wie 1942 die Strasse über den zugefrorenen Ladogasee ins belagerte Leningrad. Wir werden dann für immer mit dem Rest von Russland verbunden sein.»
Michail Scheremet, Vizepremierminister der Krim

48 Stunden auf die Fähre warten für ein Hotelzimmer zum überteuerten Preis

Während sich Minister Saweljew und Parlamentspräsident Konstantinow regelmässige Flüge zwischen Moskau und Simferopol leisten können, sind Ferien auf der Krim für russische Normalverdienende ein Luxus. Weil das Flugticket über 1000 Franken kostet, reisten letzten Sommer viele Russen mit dem Auto über das russische Festland an. Bei brütender Hitze mussten sie bis zu 48 Stunden auf die Fähren warten, die neu auch Lebensmittel für die 2,3 Mio. Krim-Bewohner und die Touristen transportieren müssen. 

Bis zu 48 Stunden Wartezeit: Fähre auf die Krim.
Bis zu 48 Stunden Wartezeit: Fähre auf die Krim.Bild: Flickr/William Verbeek

Flüge nach Ägypten und in die Türkei sind günstiger, die Hotels billiger und der Service besser als in den überteuerten Hotels und Restaurants der Krim mit ihrem «sowjetischen Charme». Zur Hauptsaison gab Präsident Putin deshalb die Anweisung, Mitarbeiter von Staatsunternehmen und Behörden sollten ihren Sommerurlaub auf der Halbinsel verbringen – kräftig subventioniert von ihren staatlichen Arbeitgebern. 

Krim, Panorama.
Krim, Panorama.Bild: Flickr/Crimea Beauty
Krim, Baklawa-Bucht.
Krim, Baklawa-Bucht.bild: flickr/crimea beauty

Trotzdem sank die Zahl der Touristen von 6 Mio. auf 3,5 Mio., wie das Ministerium für Tourismus der Republik Krim im Dezember 2014 mitteilte. Die westlichen Touristen fehlen an allen Ecken und Enden, denn jeder zweite der 2,3 Millionen Krim-Bewohner verdient mit ihnen seinen Lebensunterhalt. Und solange die Wirtschaftssanktionen gültig sind, kommen Touristen und Lebensmittel nur über die Fähren auf die Halbinsel. 

Der Vizepremierminister der Krim, Michail Scheremet, hat deshalb die Eröffnung der 19 Kilometer langen Brücke vom russischen Festland auf die Krim-Halbinsel auf das Jahr 2020 verschoben: «Für die Krim wird die neue Brücke eine Lebensader sein, wie 1942 die Strasse über den zugefrorenen Ladogasee ins belagerte Leningrad. Wir werden dann für immer mit dem Rest von Russland verbunden sein.» Die Pläne dazu sollen bald fertig sein.

Sommer 2014: Krim-Webcams zeigen kaum Touristen

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Krim-Webcams
Sewastopol, Leninstrasse. (Screenshot: Webcam)
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31 Kommentare
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Jeff Blatter
15.03.2015 22:41registriert November 2014
Toller Artikel - angenehm zu lesen, informativ und treffend! So muss Journalismus auch auf Waston sein ;)
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KarltheMarx
16.03.2015 09:21registriert Oktober 2014
Putin hat auf ganzer Linie versagt. Aber vergesst nicht, wie unbeholfen und falsch die EU reagiert hat. Die Sanktionen haben hauptsächlich die Bevölkerung getroffen, während die russischen Wirtschaftskriminellen abgesahnt haben.
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