Zwei Tage nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei haben sich die Gemüter kaum beruhigt. Das sehr knappe Ja zum neuen Grundgesetz, das Präsident Recep Tayyip Erdogan eine fast unbeschränkte Machtfülle ermöglicht, stiess im In- und Ausland auf Kritik. In Istanbul protestierten am Montagabend an verschiedenen Orten mehrere Tausend Personen gegen Erdogan.
Die Regierung beschloss eine erneute Verlängerung des Ausnahmezustands um drei Monate. Mitglieder der Regierungspartei AKP räumten ein, sie hätten sich ein deutlicheres Ergebnis gewünscht. Die Befürworter liegen laut dem vorläufigen Endergebnis nur knapp drei Prozent vor den Gegnern der Reform. Und das Ergebnis wird von verschiedenen Seiten bemängelt.
Die Wahlbeobachter des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben den Ablauf des Referendums scharf kritisiert. Befürworter und Gegner hätten «nicht die gleichen Möglichkeiten» gehabt, sagte Cezar Florin Preda, der Leiter der Europarats-Delegation. Unter dem geltenden Ausnahmezustand seien wichtige Grundrechte eingeschränkt gewesen, die «essentiell für einen wahrhaft demokratischen Prozess sind».
Besonders deutlich kritisierte Preda die Entscheidung der Wahlkommission vom Sonntag, auch nicht offiziell zugelassene Wahlunterlagen als gültig zu werten. Der rechtliche Rahmen sei nicht ausreichend gewesen. Zwar gebe es keine Hinweise auf Betrug, aber die kurzfristige Entscheidung, auch ungestempelte Stimmzettel zu akzeptieren, widerspreche dem Gesetz.
Das türkische Aussenministerium wies die Kritik als «inakzeptabel» zurück. Präsident Erdogan doppelte am Montagabend in einer Ansprache nach: «Dieses Land hat die demokratischsten Wahlen durchgeführt, wie sie kein einziges Land im Westen je erlebt hat.» Der Bericht der Wahlbeobachter sei politisch motiviert und werde von der Türkei nicht anerkannt.
Nach dem ersten Schock gingen die Gegner der Verfassungsreform zum Angriff über. Die beiden grössten Oppositionsparteien CHP und HDP forderten eine Neuauszählung. HDP-Sprecher Osman Baydemir sagte am Montag, das Referendum habe «keine demokratische Legitimität». Nach Darstellung der prokurdischen Partei könnten drei Millionen ungestempelte Stimmzettel gezählt worden sein. Die Zahl wäre damit doppelt so gross wie Erdogans Vorsprung.
Der Vizepräsident der sozialdemokratischen CHP, Bülent Tezcan, forderte die Annullierung der Abstimmung. Seine Partei kündigte an, am Dienstagnachmittag bei der Hohen Wahlkommission einen entsprechenden Antrag zu stellen. Die EU-Kommission hat die türkische Regierung am Dienstag zu einer «transparenten Untersuchung» der Vorwürfe aufgefordert.
Sadi Güven, der Vorsitzende der Wahlkommission, wies die Einwände der Opposition zurück und betonte, auch ohne offiziellen Stempel habe es sich um gültige Stimmzettel und Umschläge gehandelt. Keiner der für gültig erklärten Stimmzettel sei gefälscht oder betrügerisch abgegeben worden.
CHP-Vize Tezcan erklärte, man werde notfalls vor das Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Bis zu einem Entscheid des Strassburger Gerichts vergehen jedoch in der Regel Jahre. Eine Annullierung ist unter diesem Umständen wenig wahrscheinlich. Die AKP reagierte demonstrativ gelassen.
Der Präsident besuchte nach dem umstrittenen Sieg die Gräber mehrerer türkischer Herrscher und Politiker in Istanbul, bevor er nach Ankara zurückkehrte. Sein Weg zum Präsidentenpalast war von tausenden Anhängern gesäumt, die seinem Konvoi zujubelten, der im Schritttempo über die Autobahn fuhr. Die Reform erlaubt es ihm, als Präsident wieder einer Partei anzugehören. Die AKP kündigte bereits an, dass Erdogan Ende April in die Partei zurückkehren werde.
Ministerpräsident und Regierung bleiben zunächst im Amt. Erdogan zufolge soll das neue System bis zur Wahl Ende 2019 vollständig umgesetzt sein. Beobachter glauben, dass er nicht so lange warten und noch in diesem Jahr oder spätestens 2018 Neuwahlen ausrufen wird. Er kann für zwei fünfjährige Amtsperioden gewählt werden. Unter bestimmten Umständen ist eine dritte Amtszeit möglich. Theoretisch könnte Recep Tayyip Erdogan bis 2034 an der Macht bleiben.
Erdogan bekräftigte am Montag erneut seine Bereitschaft, die Todesstrafe in der Türkei wieder einzuführen. Er betonte, ihm sei gleichgültig, was westliche Staaten dazu meinten. «Ich achte nur darauf, was mein Volk sagt und was Allah sagt.» Die Europäische Union hat angekündigt, den Beitrittsprozess der Türkei im Falle der Wiedereinführung der Todesstrafe zu beenden.
Der Beitritt der Türkei sei «derzeit vom Tisch», sagte der italienische Aussenminister Angelino Alfano am Dienstag in einem Interview. Andere europäische Politiker äusserten sich ähnlich, während der deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel in der «Bild»-Zeitung dafür plädierte, die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara nicht abzubrechen. Er dürfte dabei nicht zuletzt an das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei denken.
Die Türkei spiele wegen ihrer Lage zwischen Osten und Westen eine wichtige Rolle, etwa in der NATO, und solle nicht isoliert werden, meinte auch sein italienischer Kollege Angelino Alfano. Recep Tayyip Erdogan hingegen sagte, ihm sei egal, ob die EU den Beitrittsprozess einfriere. Bereits im Abstimmungskampf hatte der Präsident seinerseits ein Referendum über einen Abbruch der Verhandlungen durch die Türkei selber ins Spiel gebracht.
Mit Material von sda und spiegel.de