International
Social Media

Geläuterter Hetzer: Ein Mann findet den Weg aus der Hass-Filterbubble

«Falter»-Titelseite von Anfang November.
«Falter»-Titelseite von Anfang November.bild: screenshot falter.at

Geläuterter Hetzer: Ein Mann findet den Weg aus der Hass-Filterbubble

Zuerst wollte er den Chefredaktor der österreichischen Zeitung «Falter» anzünden, weil ihm dessen Aussage nicht passte. Dann traf er den Journalisten und änderte sein Medien-Nutzungsverhalten. Mit enormen Folgen.
22.12.2016, 18:1223.12.2016, 10:14
Daria Wild
Folge mir
Mehr «International»

«Kann den wer anzünden?». Dieses Zitat prangte auf der österreichischen Wochenzeitung «Falter» Anfang November. Es war der Titel einer Reportage, die im Netz 200'000 Mal angeklickt werden sollte.

Die Geschichte dahinter geht so: Florian Klenk, Chefredaktor des «Falter» hatte Mitte Oktober einen Tweet abgesetzt, in dem er vorschlug, ORF-Nachrichten optional türkisch zu untertiteln.

Der Tweet landete auf der Facebook-Seite eines Wiener FPÖ-Stadtrats mit den Worten «Der Herr Klenk vom Falter ... immer für einen Quatsch zu haben.». Es hagelte hetzerische, rassistische und beleidigende Kommentare – von denen einer dem «Falter»-Chefredaktor besonders nahe ging. Es war jener von Boris: «Kann den wer anzünden bitte?». Er meinte Klenk.

Der Journalist fragte sich: Was macht Boris so wütend? Und was sind das für Menschen, die andere anzünden wollen? Er scrollte sich durch Boris' Facebook-Profil, fand Dutzende rassistische Postings und veröffentlichte seinerseits Boris' Kommentar. Daraufhin entschuldigte sich dieser für seine Entgleisung – er habe nicht so weit gedacht – und willigte ein, den Journalisten zu treffen.

Vom Netz radikalisiert

Klenk traf auf einen sympathischen 30-Jährigen, der sich weit gemässigter gab als im Netz. «Kein einfältiger rassistischer Provinzler», schreibt Klenk in seiner Reportage, aber einer, der vom Netz radikalisiert worden sei.

Boris holte sich seine Informationen nicht aus der Zeitung und aus dem Fernsehen – Medien, denen er nicht vertraute, sondern aus YouTube-Filmchen, aus seinen Facebook- und Twitter-Feeds. Er abonnierte jene Personen, die für ihn am überzeugendsten klangen, «vielleicht auch nur, weil sie die lautesten waren», schreibt Klenk. Diese filterten und kommentierten Boris' Welt.

Am Abend, als Boris die Drohung ins Handy tippte, las er sich zunächst durch seine Social-Media-Feeds, mit jedem Daumenwisch wuchs seine Überforderung und sein Unmut gegenüber dem, was er da las. Der Facebook-Post des FPÖ-Mannes gab ihm schliesslich den Rest.

Soziologen nennen das «diskursive Verknüpfung»: Alle Informationsfetzen und Bilder verschmelzen zu einem Narrativ, zu einer grösseren Erzählung. Sie handelt vom absoluten Kontrollverlust gegenüber dem angeblich primitiven und brutalen Fremden.

SVP-Schmids Narrativ

Klenk beschreibt in seinem Text das Phänomen, das Psychiater Wolfgang de Boor «Monoperceptose» nannte: Eine «pathologische eingeengte Wirklichkeitsauffassung», «überwertige Ideen». Es sei kein Wahn, schreibt Klenk, der Leute wie Boris erfasst, «sondern es sind einseitige Interpretationen der Welt, eine Einengung.»

Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte übrigens gerade kürzlich SVP-Nationalrat Claudio Schmid: Nur wenige Augenblicke nachdem die Schüsse in der Zürcher Moschee gefallen waren und ein Lastwagen Leute am Berliner Weihnachtsmarkt getötet hatte, hetzte der Politiker gegen den Islam, obwohl zu diesem Zeitpunkt weder die Täter, geschweige denn die Motive ermittelt waren.

Im gleichen Atemzug sagte Schmid, die Regierungen seien schuld, dass Menschen sterben würden. Schmids Posts lassen sich zu einem einfachen Weltbild verknüpfen: Das Böse sind der äussere Feind (Flüchtlinge, Islam) und der innere Feind (Regierungen, die Einwanderung zulassen). Zusammen sind diese Schuld daran, dass Menschen sterben, so der (Kurz-) Schluss.

Likes angepasst – neues Weltbild gekriegt

Zurück zu Boris: Rund einen Monat später fragt der «Falter» beim Protagonisten seiner Reportage nach. Die Verwandlung ist erstaunlich: Er nutze nach wie vor Facebook, YouTube und andere Medien im Internet, sagt der 30-Jährige. «Ich habe jedoch ganz bewusst versucht, Filterblasen und Echokammern nicht nur zu vermeiden, sondern bestehende aktiv zu durchbrechen.» Das sei einfacher, als man denke. So habe er viele seiner «Gefällt mir» und Abonnements auf Facebook entfernt und stattdessen versucht, «eine ausgewogenere Infrastruktur an News-Quellen aufzubauen.»

«Es ist erstaunlich», sagt Boris, «wie sich das eigene Weltbild verändert.» Verändere man ein paar Abonnements und Likes, sei das Spektrum an Nachrichten, welche man von Facebook aufgetischt bekomme, sofort ein ganz anderes. Er starte entspannter und mit einem positiveren Gefühl in den Tag, wenn das Erste, was er beim morgendlichen Kaffee lese, nicht von vergewaltigenden Migranten handle, sondern «zum Beispiel von der Solidarität und Hilfe gegenüber Leuten, die bestens integriert sind und nun unverständlicherweise doch abgeschoben werden sollen.»

«Hätte ich damals gewusst, was ich heute über die Filtermechaniken der sozialen Medien weiss, wäre es nie so weit gekommen.»
Boris
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
40 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
lugidani
22.12.2016 21:18registriert April 2016
Etwas vom Besten, dass ich in letzter Zeit gelesen habe. Eine feinfühlige Darstellung der aktuellen Gesellschaft. Die Erklärung von Unerklärlichem der Gesichter über den Smartphones. Boris ist kein unerfahrener Teenager, er ist 30 Jahre alt. Und irgendwie sind wir alle auch Boris, zumindest wir, die das hier lesen.
946
Melden
Zum Kommentar
avatar
Padi Engel #Kanngarnix
22.12.2016 18:54registriert April 2016
Sehr spannender Artikel! Diese so genannten Filterblasen scheinen echt grosse Auswirkungen zu haben. Das war ja auch ein Thema nach den US-Wahlen oder bei der Abstimmung über die AKWs... kann man sagen, dass das eher Fluch als Segen ist?
475
Melden
Zum Kommentar
avatar
Majoras Maske
22.12.2016 18:26registriert Dezember 2016
Sehr guter Artikel.

Man unterschätzt nämlich schon, wie man schleichend eingeengt wird. Vor einigen Wochen habe ich meinen Youtube-Verlauf mal gelöscht und habe dadurch wieder neutrale Vorschläge bekommen, mit guten Videos, die ich von mir aus wohl nie gesucht hätte.

Und wenn ich mir vorstelle, dass mit News zu machen, glaube ich schon, dass man sich radikalisieren kann (oder wird).
423
Melden
Zum Kommentar
40
Frankreich nimmt im Sommer neues Atomkraftwerk in Betrieb

Nach über 20 Jahren nimmt Frankreich in diesem Sommer erstmals wieder ein neues Atomkraftwerk in Betrieb. Wie der staatliche Energiekonzern EDF am Mittwochabend mitteilte, habe die Atomaufsicht die letzten vorbereitenden Schritte für den Start des neuen Atomreaktors in Flamanville am Ärmelkanal genehmigt.

Zur Story