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Früherer SS-Wachmann: «Es tut mir aufrichtig leid»

Reinhold Hanning (94): Der angeklagte ehemalige SS-Wachmann bricht sein Schweigen.
Reinhold Hanning (94): Der angeklagte ehemalige SS-Wachmann bricht sein Schweigen.
Bild: POOL/REUTERS

Früherer SS-Wachmann bricht Schweigen: «Es tut mir aufrichtig leid – Auschwitz war ein Albtraum»

Im Auschwitz-Prozess in der deutschen Stadt Detmold in Nordrhein-Westfalen hat der frühere SS-Wachmann Reinhold Hanning (94) sein Schweigen gebrochen: Zum ersten Mal hat er über seinen Dienst im Vernichtungslager gesprochen.
30.04.2016, 07:5730.04.2016, 10:50
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«Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe», sagte er am 13. Verhandlungstag am Freitag vor dem Landgericht in einer persönlichen Erklärung. Er tat dies mit einer hohen, heiseren Stimme, er sprach fest und deutlich, wie das deutsche Nachrichtenportal N24 berichtet. 

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«Ich bereue zutiefst, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben, die für die Tode so vieler unschuldiger Menschen und die Zerstörung unzähliger Familien verantwortlich war», sagte Hanning. «Ich entschuldige mich in aller Form, es tut mir ausdrücklich leid.»

«Ich konnte nicht darüber reden. Ich habe mich geschämt.»

Auschwitz-Wachmann bricht Schweigen

Es ist einer der letzten grossen NS-Prozesse: Beihilfe zum Mord in 170'000 Fällen wird dem früheren SS-Wachmann Reinhold Hanning vorgeworfen. Nach 13 Verhandlungstagen hat der Angeklagte ausgesagt, er schäme sich, dass er Unrecht geschehen liess. Video: kaltura.com

Zuvor hatten seine Verteidiger einen zirka 20-seitigen Erklärung über Hannings Jugend und seinen Einsatz in Auschwitz verlesen. Darin räumt er ein, von den Massenmorden gewusst zu haben.

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«Ich habe weder mit meiner Ehefrau oder meinen Kindern oder Enkeln jemals über Auschwitz gesprochen. Niemand in meiner Familie hat gewusst, dass ich in Auschwitz tätig war», las Hannings Anwalt vor. «Ich konnte nicht darüber reden. Ich habe mich geschämt.»

«Ich nahm Verbrennungsgeruch wahr. Ich wusste, dass man Leichen verbrannte.»

Und weiter: «Ich habe mein Leben lang versucht, diese Zeit zu verdrängen. Auschwitz war ein Albtraum. Ich wünschte, nie dort gewesen zu sein.» 

Blick auf Auschwitz II (Vernichtungslager Birkenau)
Blick auf Auschwitz II (Vernichtungslager Birkenau)Bild: Bundesarchiv

Der 94-Jährige bat im Bericht Angehörige um Vergebung. «Ich habe mein Leben lang darüber geschwiegen und meiner Familie verheimlicht, dass ich dort war», hiess es zum Schluss.

Was Auswitz für ein Ort war, das habe er damals noch nicht gewusst, versicherte er. Das änderte sich bald. «Es wurden Menschen erschossen, vergast und verbrannt. Ich konnte sehen, wie Leichen hin- und hergefahren oder abtransportiert wurden, ja, das bekam man mit. Ich nahm Verbrennungsgeruch wahr. Ich wusste, dass man Leichen verbrannte.»

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Hanning schob auf Wachtürmen Dienst und erledigte Büroarbeiten. Vom Vernichtungslager Birkenau will er sich ferngehalten haben. «Ich habe immer zugesehen, dass ich dort nicht zum Einsatz kam», sagte er. An der sogenannten Judenrampe, also dort, wo die Selektionen stattfanden, habe er nie Dienst gehabt. 

«Er hat nur das erzählt, was er erzählen wollte. Was Grausames passiert ist, das hat er verschwiegen»
Auschwitz-Überlebender und Nebenkläger Leon Schwarzbaum.

Es habe eine Atmosphäre geherrscht, «die ich heute nicht mehr beschreiben kann». Gespräche mit den Kameraden seien kaum möglich gewesen, völlig «anders als an der Front», wo sich «jeder auf jeden verlassen konnte». 

Nur erzählt, was er erzählen wollte»

Allerdings gab es nach dem Prozesstag Kritik an Hanning. Den Nebenklägern, welche die Hölle von Auschwitz überlebt hatten, reichte seine Ausführungen nicht. «Er hat nur das erzählt, was er erzählen wollte. Was Grausames passiert ist, das hat er verschwiegen», sagte der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum. 35 Angehörige von ihm wurden im Vernichtungslager umgebracht, darunter Vater und seine Mutter. 

Nebenkläger Leon Schwarzbaum
Nebenkläger Leon Schwarzbaum
Bild: POOL/REUTERS

Gegen den 94-Jährigen wird wegen Beihilfe zum mindestens 170'000-fachen Mord im Vernichtungslager von Januar 1943 bis Juni 1944 verhandelt. Er war einer von 6500 SS-Männern und -Frauen, die in Auschwitz geholfen haben, 1 bis 1.5 Millionen Menschen zu ermorden. Eine Verurteilung und eine Freiheitsstrafe gelten als wahrscheinlich. 

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Hanning war mit 13 Jahren am 20. April 1935, dem Geburtstag Hitlers, in die Hitlerjugend eingetreten. Später wurde er in der Elite-Truppe des NS-Staates aufgenommen und diente im SS-Regiment «Der Führer» unter anderem in den Niederlanden, Frankreich und Russland. In Kiew wurde er schwer verwundet und im Januar 1942 nach Auschwitz versetzt. 

Für den Prozess sind noch drei weitere Verhandlungstage angesetzt. Darin soll geklärt werden, welche Rolle der Angeklagte in Auschwitz inne gehabt hatte. Das Urteil wird Ende Mai erwartet. (pz/sda) 

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59 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Chihirovocale
30.04.2016 11:08registriert November 2015
Viele hier schreiben, er hätte sich wehren sollen. Aus heutiger Sicht ist das einfach gesagt. Doch wer von uns würde sein Leben und womöglich das seiner Familie aufs Spiel setzen, um sich gegen ein grausames Regime zur Wehr zu setzen. Ich fürchte es wären genauso wenige wie damals.
Mein Statement soll keinesfalls verharmlosen was geschehen ist, doch ich finde es nicht ganz ehrlich, jemanden heute moralisch zu verurteilen. Im Gegensatz zum juristischen Urteil natürlich, was wichtig und richtig ist, um die klare Missbilligung der Gesellschaft für die begangenen Verbrechen zu verdeutlichen.
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rodolofo
30.04.2016 08:28registriert Februar 2016
Auch mit 94 Jahren ist es nicht zu spät, etwas in seinem Leben zu ändern, was nie richtig funktioniert hat!
Obwohl dieser ehemalige SS-Wachmann schwieg, blieben all die grauenhaften Erinnerungen in seiner Seele eingebrannt. Das verunmöglichte ihm wohl, anderen Menschen nahe zu kommen!
Auch mein Vater musste als Deutscher mit den Nazis in den Krieg.
Hätte es das Schiksal nicht so gewollt, gäbe es mich heute nicht.
Doch der Krieg raubte mir gleichzeitig den Vater als Menschen, wie ihn ein Sohn braucht.
Da war nur eine leere Hülle von einem Menschen, der -biologisch gesehen- mein Vater war...
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inwiefern
30.04.2016 09:14registriert April 2016
Eine für den Artikel irrelevante, aber interessante Information, die ich aus dem "Visuelle Kommunikation"-Unterricht gezogen habe: Das Bild mit "Blick auf Auschwitz II", das ihr im Artikel verwendet habt, wurde in Wahrheit im KZ drinnen aufgenommen und zeigt also den Blick aus Auschwitz II HINAUS. Wir nehmen aber automatisch an, dass sich die Gleise hier vor dem "Höllentor" vereinigen und dann ohne Zurück in das KZ führen.
Ein (harmloses) Beispiel dafür, wie geschichtliches Wissen unseren Blick auf Bilder verändert und wie Medien diesen auch manipulieren können (kein Vorwurf an euch! ;))
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