14,26 Quadratmeter Fläche hatten sie zur Verfügung, 30,4 Kubikmeter Luft. Nach spätestens drei Stunden, so die Schätzung der Ermittler, waren die 71 Frauen, Männer und Kinder tot.
Das Bild des Kühllastwagens auf einer österreichischen Pannenbucht ging im Sommer 2015 um die Welt. 71 Menschen aus Afghanistan, Irak, Syrien und Iran starben auf dem Weg von Ungarn nach Österreich den Erstickungstod. Das Bild wurde zum Synonym für die menschenverachtende Arbeit der Schlepper, die vom menschlichen Leid der Migranten und Migrantinnen finanziell profitieren.
Jetzt, zwei Jahre später, wird den Schleusern und Hintermännern der Prozess gemacht. Die ungarische Staatsanwaltschaft legt der internationalen Schlepperbande 31 illegale Transporte zur Last, 1200 Menschen sollen sie so transportiert haben, zudem sollen die Beschuldigten ein kriminelles Netzwerk gebildet haben. Zehn der mutmasslichen Täter sitzen in Untersuchungshaft, einer ist flüchtig. Die vier Hauptbeschuldigten werden zudem des Mordes angeklagt.
Der Süddeutschen Zeitung, NDR und WDR liegen die Anklageschrift und Protokolle der Telefonüberwachungen vor. Die Mitschnitte offenbaren die Menschenverachtung und Profitgier der Schlepper. Der Fahrer des LKWs und seine drei Begleiter ignorieren während Stunden die Schreie, Hilferufe und verzweifelten Schläge der Flüchtenden gegen die zugesperrten LKW-Türen.
Auf die Spur der Schlepperbande kamen die ungarischen Ermittler bereits Ende Juni 2015. In der Folge hörten sie Telefongespräche ab. So auch die Gespräche zwischen den Schleusern an diesem verhängnisvollen 21. August.
Der Schlepperkonvoi besteht aus Ivajlo S., der den weissen Kühllaster steuert, Todorov B. und Metodi G., die dem Lastwagen mit einem Audi und einem Mercedes folgen, sowie Samsoor L., mutmasslicher Kopf der Bande, der mit einem BMW vorausfährt. Die vier stehen seit Beginn der Fahrt nahe Mórahalom an der ungarisch-serbischen Grenze miteinander in Telefonkontakt.
Nach 35 Minuten beginnen sich die Menschen im Frachtraum lautstark bemerkbar zu machen. Der Frachtraum des Kühlwagens hat keine Öffnung, durch das Ausatmen steigt der Kohlendioxidgehalt stetig, die Hitze ist drückend, der Raum völlig überfüllt.
Metdoi G.: «Was ist los, Ivo?»
Ivaljo S.: «Sieh, was die machen. Sag denen, dass sie mit dem Blödsinn aufhören sollen.»
Metodi G.: «Klopfen sie etwa?»
Ivajlo S.: «Sie haben an der Tankstelle sehr stark geklopft. Scheisse, oh, mein Gott!»
Metodi G.: «Scheisse.»
(Übersetzung der Telefonmitschnitte)
Die Schlepper packt die Furcht. Niemand darf mitbekommen, dass in dem Kühllaster mit dem stilisierten Geflügel-Kopf 71 Menschen transportiert werden. Irgendwann stoppt der Fahrer den Transporter auf einem Rastplatz, füllt Wasser in den Motor nach. Die Menschen bitten um Wasser, weinen, die Tür lässt sich nicht von innen öffnen.
Metodi G.: «Ich habe ihm schon gesagt, dass er nicht aufmachen darf, sondern nur Wasser füllen und weiterfahren soll. Er muss es nur bis Österreich schaffen.»
Samsoor L.: «Er soll ihnen sagen, dass er die Türen nicht öffnen kann, egal ob sie ihre Notdurft verrichten wollen oder was anderes, auch wenn sie sterben sollten.»
(Übersetzung der Telefonmitschnitte)
Für die Bande ist vor allem eines von Bedeutung: Sie müssen den Transporter auf österreichischen Boden bringen, erst dann erhalten sie den Lohn. 1000 bis 1500 Euro für die Fahrer, bis zu 5000 Euro für die Schlepper. Die Migranten haben für die Fahrt schon im Voraus bezahlt.
Kurz nach neun Uhr an diesem Morgen überquert der Lastwagen die ungarisch-österreichische Grenze. Eine knappe halbe Stunde später hält er in einer Pannenbucht nahe dem österreichischen Parndorf. Der Fahrer Ivajlo S. steigt zu seinem Partner Todorov B. in den Audi, den Transporter lassen die beiden in der Nothaltebucht stehen. 25 Stunden später entdeckt die österreichische Autobahnpolizei den LKW am Strassenrand. Noch am gleichen Abend werden Samsoor L. und Metodi G. festgenommen, am nächsten Tag auch der Fahrer Ivajlo S.
Wann die Ermittler die Gespräche ausgewertet haben, ist unklar. Gemäss «Süddeutsche Zeitung» bestreiten sie, die Gespräche live mitgehört zu haben – der Überwachungsauftrag habe dazu nicht ausgereicht. Hätten sie die Telefonate live mitgehört, hätte für die 71 Menschen vielleicht noch Hoffnung bestanden.
Am 21. Juni beginnt der Prozess im ungarischen Kecskemét.
(wst)