Seit ihrem Sieg beim Referendum sind die sogenannten Brexiteers in Grossbritannien kleinlaut geworden. Vormals von den EU-Austrittsbefürwortern gemachte Versprechungen werden plötzlich stillschweigend einkassiert oder mit Konjunktiven ummäntelt.
Neben solchen Fluchtversuchen aus der Verantwortung scheint sie vor allem Planlosigkeit zu einen. Als Beispiel dient da etwa eines der Kernversprechen der Brexit-Befürworter, nämlich Millionen für das britische Gesundheitswesen.
Die angebliche wöchentliche 350-Millionen-Pfund-Überweisung (456 Millionen Franken) an die EU sollte besser ins eigene Gesundheitssystem (NHS) fliessen. Dabei war bereits die Summe an sich schon stark übertrieben.
Doch inzwischen ist auch das Versprechen klammheimlich von der Website der Vote-Leave-Kampagne verschwunden. Dort heisst es nun schwammig: «Wir werden wöchentlich 350 Millionen Pfund sparen können. Wir können das Geld für unsere Prioritäten wie das NHS, Schulen und Wohnungsbau ausgeben.»
Der rechtspopulistische Chef der United Kingdom Independence Party (Ukip), Nigel Farage, der eine solche Zusage selbst nie gemacht haben will, gab nun zu, dass es sich um einen der «Fehler» der Austrittsbefürworter gehandelt habe.
Auch der frühere Arbeitsminister Iain Duncan Smith versuchte beim britischen Sender BBC, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen: «Wir haben nie irgendwelche Zusagen gemacht. Wir haben nur eine Reihe von Versprechungen gemacht, die als Möglichkeiten bestanden.» Im Netz erntete er dafür beissenden Spott: «Iain Duncan Smith sagt seiner Ehefrau: 'Unser Ehegelöbnis zeigt nur eine Reihe von Möglichkeiten auf'.»
Ähnlich ergeht es dem Versprechen aus dem Abstimmungskampf, die Zuwanderung im Falle eines EU-Austritts deutlich begrenzen zu können. Der Abgeordnete und Brexit-Befürworter Daniel Hannan sagt dazu nun gegenüber BBC: «Wir haben nie gesagt, dass es einen radikalen Rückgang geben wird.»
Dann bekannte Hannan freimütig: «Offen gesagt», wer glaube, dass es «jetzt null Einwanderung aus der EU geben wird, wird enttäuscht werden». Farage zeigte sich im Fernsehen bereits «nervös» angesichts der Rückzugsgefechte des Brexit-Lagers.
Schliesslich wünscht sich auch ein von der EU abgekoppeltes Grossbritannien Vorteile beim Zugang zum Binnenmarkt, wo nun einmal Freizügigkeit herrscht. Bundeskanzlerin Angela Merkel erteilte jeglicher «Rosinenpickerei» Londons bei Austrittsverhandlungen vorsorglich eine Absage.
Von einer der Galionsfiguren des Brexit-Lagers war nach dem Referendum erst einmal kaum etwas zu sehen oder hören. Londons früherer Stadtpräsident Boris Johnson meldete sich erst am Montag mit einem Gastbeitrag im «Daily Telegraph» ausführlich zu Wort.
Dort schrieb er von einer «intensiven und sich intensivierenden Zusammenarbeit» mit Europa. Konkretes lieferte der Gegner einer stärkeren europäischen Integration nicht. Nicht nur bei Johnson drängte sich der Eindruck auf, dass das Brexit-Lager selbst überrascht wurde.
Der frühere schottische Premier Alex Salmond sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, beim Unabhängigkeitsreferendum der Schotten 2014 habe es ein 670 Seiten starkes «Weissbuch» mit Plänen für den Tag X und die Folgezeit gegeben. Angesichts der Konfusion im Brexit-Lager vermutete Mittelstandsministerin und Brexit-Gegnerin Anna Soubry, Johnsons einziger Plan beim Brexit sei seine Karriere gewesen.
In dieses Bild passt auch Londons Zaudern. Der zur Einleitung des Austrittsverfahrens zwingend auszulösende Artikel 50 des Lissabon-Vertrags von 2007 soll erst einmal nicht bedient werden.
Premier David Cameron will erst Anfang September Platz für einen Nachfolger machen, der dann den Austritt regeln soll. Er wolle keine «zu frühe» Einleitung des Verfahrens, um keinen «unbeherrschbaren» Austritt zu riskieren. Und auch Johnson sah plötzlich «keinen Grund zur Eile» mehr. (whr/sda/afp)