Juha Jarvinen, markantes Gesicht, stechender Blick, leicht zerzaustes Haar, sitzt am Couchtisch in seinem Haus im Westen Finnlands. Ein Holzhaus, geräumig, ofenbeheizt, eines von vielen in der von der Metallindustrie geprägten Region des skandinavischen Landes. Der 38-Jährige nimmt sich Zeit für das Skype-Interview, wie für alle Anfragen von Journalisten. Mehr als hundert seien es in den letzten Tagen gewesen. Und allen will Jarvinen seine Geschichte erzählen.
Juha Jarvinen, Sie haben im Januar erstmals ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) erhalten – frönen sie jetzt dem Lotterleben?
Finnland ist ein teures Land, das Grundeinkommen [umgerechnet 600 Schweizer Franken pro Monat Anm.d.Red.] reicht ja nur knapp, um Essen zu kaufen. Meine Frau ist Pflegerin, wir haben sechs Kinder. Wir führen also immer noch ein armes Leben, an Rumhängen ist nicht zu denken.
Das BGE ist sogar tiefer als das Arbeitslosengeld, das Sie bis jetzt erhalten haben. Ist das nicht irrsinnig?
Nein, überhaupt nicht. Es ist grossartig. Das BGE macht mich frei, ich kann endlich meine eigenen Entscheidungen treffen, meine Ideen umsetzen. Mein Leben hat sich markant verbessert.
Und das schon nach einem Monat?
Ich habe sehnlichst darauf gehofft, für das Experiment ausgewählt zu werden. Während meine sechs Kinder auf Weihnachten warteten, bangte ich um den Entscheid. Zu wissen, dass ich jetzt während zwei Jahren keine bürokratischen Hürdenläufe mehr absolvieren und keine Arbeitslosenprogramme mehr besuchen muss, hat mein Leben schon jetzt verbessert, ja.
Sind denn Arbeitslosenprogramme etwas Schlechtes?
Ich habe mal für eine Kirche Putzarbeiten erledigt. Für neun Euro pro Tag. Das nenne ich Sklavenarbeit. Und ein Mal musste ich an einen Kurs, der den Arbeitslosen hätte dabei helfen sollen, einen Job zu finden. Wir lernten, einen Computer einzuschalten und Word zu benutzen. Eine Woche lang! Obwohl ich und sicher 20 andere schon lange wussten, wie das geht. Das ist wahnsinnig teuer und nützt den wenigsten etwas. Ich dachte mir, ich würde viel besser fischen gehen.
Das finnische Sozialsystem gilt als eines der besten.
Klar, es ist gut, aber es bringt die Menschen nicht auf den Arbeitsmarkt zurück – im Gegenteil. Wir sind Schauspieler in einem Theater: Wer den Behörden vorgaukeln kann, er suche Arbeit, oder habe bald Arbeit, schlüpft durch. Wer mal einen Job für Geld erledigen will, dem wird das Arbeitslosengeld gestrichen. Man fährt also besser, wenn man sich einfach durchmogelt. Zudem ist das System einfach nicht mehr zeitgemäss.
Warum nicht?
In meiner Region dominiert die Metallindustrie, viele Stellen sind wegen der Automatisierung verloren gegangen. Das ist gut, das fühlt sich an wie eine zweite industrielle Revolution. Doch nun müssen wir uns von den alten, riesigen Fabriken verabschieden und uns umorientieren. Denn im Moment rennen wir noch Jobs nach, die es nicht mehr gibt.
Und das BGE könnte bei der Umorientierung helfen?
Auf jeden Fall. Jetzt kann ich mit allen möglichen Jobs Geld zusätzlich verdienen, was ich vorher nicht konnte. Mein Nachbar beispielsweise wollte mich dafür bezahlen, dass ich ihm eine Hundehütte baue. Aber das geht nicht, selbst wenn er mir zehn Euro überweisen würde, würden die Behörden sagen: «Du verdienst ja, wir streichen dir dein Arbeitslosengeld.» Jetzt kann ich auch solche Jobs annehmen, die kein geregeltes Einkommen bedeuten.
Fischen, Hundehütten bauen, was haben Sie sonst für Pläne?
Ich habe lange davon geträumt, mir wieder ein eigenes Business aufzubauen. Und ich habe viele Ideen. Diesen Monat war ich drei Wochen in Senegal, um mit einer Freundin einen Film zu drehen. Wir haben ein Skript in der Pipeline für eine weitere Produktion. Ich baue Trommeln, für die ich schon viele Anfragen erhalten habe, flicke elektronische Geräte für Bekannte. Und ich überlege mir nun, von Couchsurfing auf Airbnb umzustellen und mit Tourismus etwas zu verdienen.
Was haben Sie gemacht, bevor Sie arbeitslos wurden?
Ich hatte mein eigenes Unternehmen, fertigte Holzrahmen an. Es lief gut, ich hatte viele Kunden. Doch vor fünf Jahren hatte ich ein Burnout und verlor alles. Es war eine harte Zeit, aber ich bin nicht verbittert, es hat auch seine guten Seiten. Auf jeden Fall hätte ich in den letzten Jahren immer gern gearbeitet, doch das Risiko, sechs Kinder durchzubringen und wieder etwas eigenes aufzubauen, war einfach zu gross.
Sie sind der perfekte Botschafter für das BGE. Sie sind kreativ und haben eigene Ideen. Das dürfte längst nicht für alle gelten.
Viele meinen, wenn jemand ein BGE bekommt, hängt er einfach in seinem Sofa rum und chillt. Aber das glaube ich nicht. Sicher findet es jeder toll, einfach mal frei zu haben, ein paar Tage, Wochen, vielleicht sogar ein Jahr. Aber dann wollen doch alle zurück und etwas tun. Ausser ein paar Hippies vielleicht. Ich bin überzeugt, dass das BGE die Gesellschaft weiter bringt. Es ist wie ein Brunnen in Senegal.
Was?
In Senegal war ich überrascht, wie viel Zeit die Frauen dort damit verbringen, Wasser zu holen. Hätten Sie alle einen besseren Zugang zu einem Brunnen, könnten Sie sich in der restlichen Zeit anderem widmen. Eine Stufe höher setzt das BGE an: Statt sich mit Behördenkram rumschlagen zu müssen und frustriert arbeitslos zu bleiben, kann ich mich um Projekte kümmern oder mit meinen Kindern spielen. Natürlich ist auch das ein Risiko – ich weiss ja nicht, ob meine Projekte gelingen und irgendwem etwas bringen. Aber hey, Mark Zuckerberg wusste auch nicht, ob Facebook funktionieren wird.
Mark Zuckerberg wäre aber gerade ein Beispiel dafür, dass es das BGE für Innovationen nicht zwingend braucht.
Natürlich wird niemand zum Zuckerberg nur weil er ein BGE bekommt. Aber es braucht Pioniere, und wenn das BGE kreative Menschen dazu bringt, Dinge auszuprobieren und ihre Fähigkeiten zu testen, schafft das neue Jobs. Ich kenne auf jeden Fall viele Menschen, die arbeitslos sind und gern etwas tun würden, denen das Risiko aber zu gross ist.
Das Risiko, ein BGE einzuführen, ist auch gross. Es ist teuer.
Das jetzige System ist auch teuer, schadet der Regierung und den Menschen. Das BGE wäre eine Investition. Es würde wohl eine Weile dauern, bis etwas daraus entsteht und der Wandel sichtbar ist. Aber wir investieren ja auch in die Infrastruktur, warum nicht in den Menschen, ganz direkt?
Es ist eine schöne Vorstellung, Menschen würden trotzdem arbeiten, aber die schlechten Jobs ablehnen. Aber was, wenn aus der Autonomie auch Überforderung erwächst?
Ich glaube einfach nicht, dass jemand ein Jahr lang Vodka trinken und auf der Couch rumhängen, oder ein Jahr lang Ferien haben will.
Ausser die Hippies.
Ausser die Hippies. Aber von denen gibt es nicht so viele. Und dass es Menschen gibt, die ein System für sich ausnutzen, ist ein Fakt, den man akzeptieren muss.
Solche, die dann tatsächlich nur Vodka trinken.
Das macht doch niemand freiwillig. Das sind Schicksale, die sich niemand wünscht und die niemand wählt. Das sind persönliche Tragödien, die einfach nicht vermeidbar sind.
Einverstanden. Wird Ihnen in den nächsten zwei Jahren eigentlich auf die Finger geschaut?
Tatsächlich habe ich diese Woche einen Brief bekommen, in dem es hiess, ich müsse einen Sozialarbeiter treffen und meine Visionen und Pläne besprechen. Ich habe viele Ideen, aber konkrete Pläne habe ich noch keine gemacht. Bis jetzt musste ich mich noch mit all den Journalisten rumschlagen!
Sie sind auch der einzige der Probanden, der sich öffentlich gezeigt hat.
Finnen sind scheu, die zeigen sich nicht gern. Ich weiss auch nichts über die anderen. Vielleicht lerne ich die ja mal kennen. Aber ich gebe gerne mein Gesicht für dieses Experiment. Es wird sich auszahlen, besonders für die sozial schwachen. Es bedeutet Humanität. Wenn es hier funktioniert, wird es überall funktionieren, davon bin ich überzeugt. Also laufe ich jetzt noch ein bisschen rum und erzähle allen, wie toll es ist. Bevor die Wahrheit rauskommt (lacht).