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Interview

Interview: «Ich glaube, die meisten Syrer wollen nach Hause»

«Welt»-Korrespondent Alfred Hackensberger: «Dass es sich mit einem Schengen-Visum leichter reist als ohne, ist ja bekannt.»  
«Welt»-Korrespondent Alfred Hackensberger: «Dass es sich mit einem Schengen-Visum leichter reist als ohne, ist ja bekannt.»  
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«Ich glaube, die meisten Syrer wollen wieder nach Hause»

Der Nahost-Korrespondent der «Welt» hat über einen Syrer berichtet, der «aus der Schweiz geflüchtet» ist. Kein Einzelfall, aber dennoch bisher die Ausnahme, sagt Alfred Hackensberger. Ein Gespräch über Beweggründe zur Flucht, sichere Zonen in Syrien und Gespräche am Schlittschuh-Verleih. 
25.12.2015, 07:3126.12.2015, 07:57
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Herr Hackensberger, Ihr Portrait eines Syrers, der aus der Schweiz zurück nach Syrien geflohen ist, hat hier hohe Wellen geworfen. Ist er ein Einzelfall?
Für die Schweiz kann ich das nicht beurteilen, er ist der einzige Schweizer, den ich getroffen habe, aber wenn man mit syrischen Flüchtlingen in Deutschland in Kontakt ist, dann gibt es dort einige Unzufriedene, die gerne wieder zurückfahren würden. Aber sie können nicht, weil sie keine Papiere, kein Geld und eigentlich in Syrien auch keine Perspektive mehr haben.

Die Syrer in der Heimat können nicht helfen?
Nein, eigentlich nicht. Die haben ja genug eigene Probleme. Die erzählen mir hin und wieder auch von Verwandten in Europa, die wieder zurück wollen, aber wenn es nicht geht, dann geht es nicht, und die Haltung der Heimatsyrer ist: Ihr habt die Flucht als Weg gewählt, jetzt müsst ihr halt schauen, wie ihr dort durchkommt.

Wie haben Sie denn den George Melke gefunden?
Auf den bin ich zufällig aufmerksam geworden, als ich in einer nordöstlichen Provinz in Syrien nach Rückkehrern gesucht habe. Der ist eine interessante Figur, weil er aus einer eigentlich gefährdeten Dissidentenfamilie kommt und offensiv kommuniziert, dass er wegen des Kulturschocks, den er in der Schweiz erlitten hatte, wieder zurückgekommen ist. Er sagt offen, dass er in Europa nicht zurechtkommt und auch nicht zurechtkommen will. Die erste Möglichkeit zur Rückkehr hat er ergriffen, was er aber nur tun konnte, weil es in seinem Heimatort mittlerweile wieder sicher ist. Das war natürlich nicht so, als er dort weggegangen ist.

Was meinen Sie mit sicher?
Nun, die islamistischen Milizen in der Provinz Rojava sind abgezogen und die kurdisch-aramäisch-turkmenischen Verbände, die den Ort befreit haben, lassen die Bewohner in Ruhe. Es gibt nur noch eine Armee dort, die Syrian Democratic Forces und die Region ist weitgehend autonom. Ich war selber verblüfft, man kann da jetzt sogar ins Hotel gehen und es gibt Internetanschluss. Das war vor sechs Monaten noch nicht so. Da gab es noch nicht mal Strom oder fliessend Wasser.

Dann müssten die Leute ja jetzt scharenweise dorthin zurückkehren, so wie sie die Situation vor Ort und die Gefühle der Syrer im Exil schildern.
Das ist nicht so. Melke ist noch immer ein Einzelfall. Diejenigen, die in Europa sind, werden als letzte zurückgehen. Die, die jetzt langsam wieder zurückkehren, dorthin wo es sicher ist, sind diejenigen, die in der Türkei oder im Irak in Flüchtlingslagern sitzen. Diejenigen die in Europa sind, bleiben vorerst. Einerseits, weil sie schlicht nicht die Mittel haben, um die Rückreise anzutreten, andererseits, weil viele sich bereits in einem Asylprozess befinden und diesen erst abschliessen wollen. Mit einem geregelten Aufenthaltsstatus können sie sich mehr Optionen offen halten, auch die auf Rückkehr oder Pendeln. Dass es sich mit einem Schengen-Visum leichter reist als ohne, ist ja bekannt.

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Was halten Sie von der Auffassung, dass die meisten Flüchtlinge aus Syrien Wirtschaftsmigranten seien?
Davon halt ich nichts. Solche Schwarz-weiss-Schemata greifen sowieso nie, und im Fall des Syrienkriegs ist es noch komplizierter. Natürlich sind diejenigen syrischen Flüchtlinge, die von der Türkei nach Westeuropa kommen, keine Kriegsflüchtlinge im engeren Sinn mehr, weil in der Türkei ja kein Krieg herrscht. Aber dass deren Leben in der Türkei, in die sie wegen eines kriegerischen Konflikts flüchten mussten, nicht sehr angenehm ist, ist auch klar.

Also eher Kriegsflüchtlinge?
Wie gesagt, Schwarz-weiss-Denken funktioniert da nicht. Ich habe gestern beim Schlittschuhverleih mit einem syrischen Flüchtling gesprochen, der da die Schlittschuhe herausgibt. Der ist aus Damaskus aus einem Regime-Viertel und somit eigentlich nicht direkt von Bomben- oder Luftangriffen bedroht. Wohl aber könnte er eingezogen werden in die Armee und somit wäre er doch von Kriegsgefahren bedroht oder er könnte aus politischen Gründen inhaftiert und gefoltert werden. Es gibt aber sicher auch solche, die einfach die eine Gelegenheit ergreifen, die sich ihnen bietet.

Wie meinen Sie das?
Junge Leute, die schon immer nach Europa wollten, sei es, um zu studieren oder um zu arbeiten. Die sehen jetzt die Möglichkeit, das zu machen, und packen die Gelegenheit beim Schopf. Aber diese Leute als Wirtschaftsflüchtlinge zu bezeichnen, scheint mir verfehlt. Es ist ja nicht so, dass die Mittelklasse in Syrien am Hungertuch genagt hätte, im Gegenteil, diese Leute haben ja Geld. In den Enklaven Seuta und Melilla in Marokko, wo ich wohne, sagen mir die Taxifahrer, der Syrien-Krieg habe sie saniert. Die schwarzafrikanischen Flüchtlinge seien alle zu Fuss gegangen, die Syrer hingegen könnten sich Taxifahrten leisten.

Was stellen Sie für eine Prognose bezüglich Rückkehrer? Gehen diejenigen Syrer, die aus mittlerweile wieder friedlichen Gegenden kamen, wieder zurück?
Ich glaube, die meisten Syrer wollen wieder nach Hause und würden auch gehen, wenn sie könnten. Jedenfalls in der ersten Phase ihrer Anwesenheit im Fluchtland. Was Melke beschreibt, wie ihm die eigentlich normale Behandlung und Unterbringung von Asylsuchenden nicht gepasst hat, ist sicher kein seltenes Phänomen. Ausser den Ärmsten der Armen, hatten viele Syrer vorher höhere Lebensstandards. Nicht, dass sie die in Europa nicht auch erreichen könnten, aber halt nicht sofort.

Und was ist mit Melke? Hat er keine Angst, dass das Regime ihn nicht doch mal noch für seine Aussagen zur Rechenschaft ziehen könnte?
Nein, das ist das Letzte, wovor der Angst hat. Niemand dort glaubt ernsthaft, dass das Regime Assad noch irgendwie mal auferstehen könnte, schon gar nicht im Nordosten des Landes. Wenn die Leute dort vor etwas Angst haben, dann vor islamistischen Milizen wie der al-Nusra-Fron oder dem sogenannten «IS». Die sind die grösste Gefahr, denn sie errichten sofort ihre eigenen staatlichen Strukturen und fangen an, die Leute zu töten und zu entführen.

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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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BoingBoing
25.12.2015 09:37registriert September 2015
Natürlich würden alle Syrier zurückkehren wollen. Wenn nicht gerade Krieg wäre.
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Scaros_2
25.12.2015 10:55registriert Juni 2015
Mal im Ernst, müsste ich heute von meinem schönen Wohnort am Bodensee flüchten, egal wohin, sei das nach Schweden, Italien oder noch weiter weg. ich will verdammt nochmal wieder zurück weil ich hier die Lebensqualität am schönsten erachte. Das will innerlich jeder Mensch denn nur dort wo man gross wurde fühlt man sich auch zuhause. Ausser vielleicht die 10% der Menschheit die Weltenbummler wird und sich überall - angeblich - wohl fühlen. Die mal aussen vor
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