Herr Wirth, der Entscheid des SRF, nach dem Terroranschlag in Manchester keine Sondersendung anzuberaumen, hat für Aufsehen gesorgt.
Werner Wirth: Die Medien sind dazu aufgerufen, das Besondere und Aussergewöhnliche in den Mittelpunkt zu stellen. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn sich aber das Aussergewöhnliche in der Form von Attentaten nach dem immer gleichen Muster wiederholt, dann müssen auch die Medien anfangen, darüber nachzudenken, wie sie damit umgehen. Es ist niemandem geholfen, wenn die Medien von Sonderfall zu Sonderfall taumeln und dabei die restliche politische Berichterstattung völlig vernachlässigen.
Sie halten die Entscheidung also für richtig?
Ich denke, es ist eine nachvollziehbare Entscheidung, dass sich die Medien hinterfragen, wie man auf solche wiederkehrende Ereignisse reagiert ohne gleich in den Panikmodus zu verfallen.
Der Grossteil der (Online-)Medien hält aber an der 24/7-Berichterstattung fest. Auch watson.
Ja, aber man verkauft den Leser und den User für blöd, wenn man jedes Mal so tut, als wäre es das erste Mal. Ausserdem ist der Informationsgehalt der Live-Berichterstattung doch relativ gering – vor allem in den ersten Stunden nach einem Anschlag, in denen man logischerweise kaum etwas über den Attentäter und gar nichts über die Hintergründe weiss, sondern allenfalls vermelden kann, dass die Zahl der Verletzten und Toten steigt.
Stehen die Medien angesichts der zunehmenden Attentate vor einem grundlegenden Wandel?
Die grundlegende Funktionsweise der Medien hat sich trotz Internet und sozialer Medien nicht verändert. Die Ereignisse, das Weltgeschehen bleiben gleich, nur haben sie jetzt ungleich mehr Möglichkeiten – bei gleichzeitig höherem Aktualitätsdruck ...
... aber?
Wenn wir wissen, dass sich Attentate jederzeit und ohne jede Ratio ereignen können, dann ändern sich die Pflichten der Regierenden und die Erwartungen des Bürgers. Die Aufgabe der Medien als vierte Gewalt ist es, Fragen zu stellen. Wo versagten die Sicherheitskräfte? Welche Lücken gibt es im Sicherheitskonzept? Der Exekutive auf die Finger schauen, nachfragen, Entscheidungen hinterfragen.
Also die klassische Arbeit des Journalisten? Fragen stellen. Antworten einfordern. Einordnen? Das wird doch jetzt schon nach Attentaten gemacht.
Ja, aber die Fragen werden jetzt in kürzeren Abständen zu Anschlägen gestellt. Früher wurde das eher noch als pietätlos empfunden, als No-Go. Mein Eindruck ist, dass sich diese Frist jetzt verkürzt.
Ist die Entscheidung des SRF Ausdruck einer emotionalen Abgestumpftheit?
Ich glaube nicht. Es ist erstens richtig, dass man sich schützt vor allzu grosser emotionaler Belastung. Als Vater von zwei Kindern kann ich nicht über den Anschlag in Manchester nachdenken, ohne dass ich irgendwann selber panisch werde. Gleichzeitig ist Eigenschutz nicht gleichbedeutend mit emotionaler Abgestumpftheit. Man ist nicht abgestumpft, wenn man sich nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit mit dem islamistischen Terror auseinandersetzt. Auch wenn das zynisch klingen mag: Der Alltag geht weiter. Trauerarbeit heisst ja auch nicht, dass man unablässig an den Verstorbenen denkt. Es spielen auch andere Faktoren mit: Ärger, Wut, irgendwann auch Akzeptanz. Niemand erwartet, dass man Tag für Tag den Rest des Lebens in Trauer verharrt.
Auch die Solidaritätsbekundungen auf den sozialen Medien sind zwei Tage später nicht mehr ganz so zahlreich und intensiv wie etwa im Nachgang Nizza oder bei Charlie Hebdo.
Ja, die öffentliche Betroffenheitsbekundungen nutzen sich im Wiederholungsfall halt auch irgendwann ab. Überdies ist es ein Fehlschluss, wenn man aus dem Grad der Social-Media-Betroffenheit auf den Grad der Betroffenheit in der Gesamtbevölkerung schliesst. Ich habe mich selber noch nie an Social-Media-Beileidskampagnen beteiligt, fühle mich aber trotzdem betroffen, wenn auf der Welt Terrorattentate stattfinden.
Plädieren Sie dafür, die mediale Berichterstattung nach Anschlägen zurückzufahren?
Berichterstattung zurückfahren ist ein weiter Begriff. Ich kann mir vorstellen, dass bei zunehmender Intensität und Frequenz von Terroranschlägen ein Modell wie der Liveticker nicht mehr taugt. Umgekehrt wird die hinterfragende Berichterstattung wichtiger, je mehr sich diese fürchterlichen Attentate häufen.
Medien stehen nach Anschlägen praktisch immer in der Kritik. Entweder sie berichten zu viel oder zu wenig, entweder sie schreiben zu sachlich oder zu emotional.
Ja. Terroranschläge wie der in Manchester stellen die Medien vor einen Balanceakt. Einerseits müssen sie Emotionen in der Berichterstattung behandeln, sonst wird ihnen das als Kaltschnäuzigkeit ausgelegt. Anderseits darf man es auch nicht übertreiben, sonst kommt es zu einem Overkill. Ein Patentrezept, wie Medien mit Terrorattacken umgehen sollten, gibt es nicht.