Kann gut sein, dass Guy Bruneau als Kind stundenlang im Atlas herumstöberte. Als Erwachsener kam der Kanadier, der beruflich mit Geoinformationsdaten zu tun hat, jedenfalls auf eine unkonventionelle Idee – eine Idee, auf die wohl nur Karten-Freaks kommen. Bruneau suchte und fand die längste gerade Strecke, die man auf diesem Globus zu Land zurücklegen kann, ohne ein Meer oder ein grösseres Gewässer zu überqueren.
Das Resultat ist erstaunlich: Die Linie beginnt im Westen von Afrika am Atlantik und zieht sich schnurgerade über zwei Kontinente hin, bis sie schliesslich in Ost-China wieder das Meer erreicht, diesmal den Pazifik:
Da eine Linie, die auf einer Kugeloberfläche zwei Punkte verbindet, gekrümmt ist, erscheint sie auf der üblichen, nicht flächentreuen Mercator-Projektion, wie sie auch auf GoogleMaps Verwendung findet, ebenfalls als Bogen:
Auf Google Earth hingegen lässt sie sich mithilfe der von Bruneau erstellten KML-Datei als Gerade darstellen:
Die Strecke zwischen Chom Town in Liberia und Shitangzhen in China durchquert neun Zeitzonen und 18 Länder und Territorien. Wer sie tatsächlich zu Fuss abwandern möchte, würde viel Ausdauer benötigen – und viel Mut.
Ausdauer wäre nur schon wegen der enormen Länge der Strecke vonnöten: Es sind 13'589,31 Kilometer, knapp ein Drittel des Erdumfangs. Bei einer Marschgeschwindigkeit von 5 km/h – Tag und Nacht, ohne Pause – würde die Wanderung 113 Tage und 6 Stunden dauern. An den Kräften zehren würde auch das Gelände, schliesslich verläuft die Strecke durch mehrere Wüstengebiete und über die höchsten Gebirge der Welt.
Womöglich noch wichtiger wäre aber der Mut. Es wirkt, als wäre die Linie speziell angelegt worden, um einige der schlimmsten Krisenherde der Welt miteinander zu verbinden. Nehmen wir einen Augenschein entlang der Strecke:
Erst letzten Sommer ist in Liberia, Sierra Leone und Guinea die bisher schlimmste Ebola-Epidemie seit Entdeckung des Virus zu Ende gegangen. Daher ist die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, derzeit eher gering. Auch sonst sind die Zeiten in Liberia besser als auch schon: Bis 2003 tobte in dem westafrikanischen Land ein 14-jähriger Bürgerkrieg, der Liberia in eine Hölle auf Erden verwandelte.
Auch in der benachbarten Elfenbeinküste treffen wir eine verbesserte Lage im Vergleich zu 2010/2011 an. Nach wie vor besteht aber das Risiko, als Ausländer von der islamistischen Terrorgruppe Ansar Dine entführt zu werden. Auch die Gefahr von Anschlägen ist hoch: Noch diesen März forderte ein Anschlag der Terrorgruppe al-Kaida im Maghreb an der Küste bei Grand Bassam mehrere Todesopfer.
Mali lassen wir buchstäblich links liegen und gelangen weiter nordwestlich nach Niger, wo das Operationsgebiet der islamistischen Terrormiliz Boko Haram beginnt.
Die grösste Wüste der Welt, die Sahara, durchqueren wir diagonal und damit auf einem besonders langen Weg. Ein beträchtlicher Teil davon führt durch Libyen. In dem Maghreb-Staat bekämpfen sich seit dem Sturz des Diktators Gaddafi mehrere Milizen unter diversen Warlords; die Lage ist ziemlich unübersichtlich. Für Ausländer besteht auch hier ein hohes Entführungsrisiko.
Nach der Wüste gelangen wir in Ägypten ins fruchtbare Niltal, das wir in den südlichen Vororten der Hauptstadt Kairo durchqueren. In Ägypten gilt besonders in Touristengebieten erhöhte Terrorgefahr. Besonders gefährlich ist der Sinai, den wir ganz im Norden durchqueren. Hier drohen nicht nur islamistische Terroranschläge, hier lauern auch lokale Beduinenstämme auf Opfer. Sie finden sie in den Flüchtlingen aus Eritrea oder dem Sudan, die auf dem Weg nach Israel durch den Sinai kommen. Wer gefangen wird und nicht bezahlen kann, verliert in vielen Fällen sein Leben – und seine Organe.
Nur wenige Kilometer südlich des Gazastreifens, wo die Hamas regiert, überqueren wir die ägyptisch-israelische Grenze und befinden uns nun im Negev. Auf halbem Weg zum Toten Meer passieren wir die Waffenstillstandslinie von 1949, die Israel vom besetzten Westjordanland trennt. Hier droht die Gefahr, dass palästinensische Jugendliche uns für Israelis halten und mit Steinen bewerfen. Unser Weg führt auch direkt an israelischen Siedlungen vorbei, zum Beispiel Eshkolot, die nach internationalem Recht als illegal gelten. Der Nahostkonflikt hat seit letztem Herbst erneut an Schärfe gewonnen; es ist zu zahlreichen Angriffen von Palästinensern auf Israelis gekommen, oft mit Messern.
Über das Tote Meer hinweg – das Bruneau offenbar nicht als grösseres Gewässer eingestuft hat – gelangen wir nach Jordanien.
Unsere Route führt südlich des vom Bürgerkrieg zerrissenen Syriens in den Irak. Knapp schrammen wir am vom sogenannten «Islamischen Staat» kontrollierten Gebiet – dem «Kalifat» – vorbei, doch das bedeutet nicht, dass wir nicht in bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen irakischen Truppen, schiitischen Milizen und «IS»-Kämpfern geraten oder einem Luftangriff zum Opfer fallen könnten. Zudem drohen stets Anschläge wie kürzlich der verheerende Selbstmordanschlag in Bagdad, der über 200 Tote forderte.
Nachdem wir nördlich von Bagdad zuerst den Euphrat und dann den Tigris überquert haben, betreten wir bald jenen Teil des Iraks, der zurzeit wohl am wenigsten gefährlich ist: Kurdistan. Die faktisch autonome Region verfügt mit den «Peschmerga» über eigene Truppen, die gemeinsam mit der internationalen Koalition im Irak gegen den «IS» kämpfen.
Nach dem von Gewalt gepeinigten Irak ist die Islamische Republik Iran vergleichsweise ein Hort der Stabilität. Das Mullah-Regime hat den Riesenstaat fest im Griff. Einzig im Südosten des Landes, in der Provinz Sistan-Belutschistan, kommt es regelmässig zu Konflikten zwischen bewaffneten separatistischen Gruppen und staatlichen Sicherheitskräften. Diese Region ist jedoch weit von unserer Route entfernt, die im Norden des Landes zwischen Teheran und dem Kaspischen Meer über das Elburs-Gebirge verläuft.
Die Route führt uns nun durch die mittelasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion: Turkmenistan, Usbekistan, und Tadschikistan. Turkmenistan ist ein repressiver Polizeistaat, der aber für Ausländer sicher ist – sofern sie sich an die Gesetze halten. In Tadschikistan ist die Lage vor allem an der Grenze zu Afghanistan unsicher; dort kann es zu Feuergefechten zwischen Grenztruppen und Drogenschmugglern kommen. Afghanistan ist nach wie vor extrem unsicher; es droht nahezu überall im Land die Gefahr von Entführungen und Anschlägen wie am letzten Wochenende in Kabul.
In Tadschikistan verläuft die Route zwischen Pamir und Karakorum, zwei hohen Gebirgen, die zum Dach der Welt gehören. Weiter südlich liegt – Zankapfel von Atommächten – die zwischen Indien und Pakistan umstrittene Kaschmir-Region.
Nach dem Hochgebirge folgt die Wüste Takla Makan, die zweitgrösste Sandwüste der Welt. Sie liegt im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang, das zusammen mit dem südlich angrenzenden Tibet die westlichen Unruheprovinzen Chinas bildet. Die muslimischen Uiguren geraten durch die Zuwanderung von Han-Chinesen allmählich in eine Minderheitsposition in der Provinz. In der Vergangenheit kam es verschiedentlich zu Anschlägen; rund 300 Uiguren kämpfen auch auf Seiten des sogenannten «Islamischen Staates».