Als Premierministerin Theresa May im April vorgezogene Neuwahlen ankündigte, rauften sich viele Labour-Parlamentarier die Haare. Sie waren überzeugt, dass sie ihre prestigeträchtigen und gut bezahlten Sitze auf den grünen Lederbänken des Unterhauses verlieren würden. Alles deutete auf einen Erdrutschsieg für die Konservativen hin – und ein Mandat für einen «harten» Brexit.
Es kam ganz anders. Das Ergebnis der Unterhauswahl ist eine der grössten Sensationen der britischen Geschichte. Labour verlor keine Sitze, sondern legte im Gegenteil deutlich zu, während die Tories ihre Mehrheit einbüssten. Statt zum May-Day wurde der Wahltag für die Konservativen zum Mayhem. Das Pokerspiel der Regierungschefin endete in Chaos und Selbstzerstörung.
Diese Demütigung dürfte Theresa May politisch nicht überleben. Bereits in der Nacht wurden erste Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen laut. Die Premierministerin führte einen miserablen Wahlkampf, der zu Vergleichen mit Hillary Clinton animierte. Die ohnehin nicht sehr umgängliche Politikerin, die Smalltalk erklärtermassen verabscheut, vermied den Kontakt zum «einfachen» Wahlvolk. Ihre Auftritte absolvierte sie überwiegend vor einem handverlesenen Publikum.
Hinzu kamen katastrophale strategische Fehler. Der Vorschlag, pflegebedürftige Menschen müssten zur Finanzierung ihrer medizinischen Versorgung notfalls ihr Häuschen verkaufen, sorgte für Aufruhr gerade unter treuen Tory-Wählern. Die Redensart «My Home is my Castle» stammt nicht umsonst aus Grossbritannien. May zog ihn eilends zurück, doch der Schaden war angerichtet.
Der grosse Sieger dieser Wahl heisst Jeremy Corbyn. Bis vor kurzem galt der Vorsitzende der Labour-Partei als Lachnummer und als hoffnungsloser Fall. Doch der Schrebergärtner aus dem Londoner Stadtteil Islington absolvierte im Gegensatz zu Theresa May einen starken Wahlkampf, in dem er sich unerschrocken den vielen Kritikern seiner Linksaussen-Positionen stellte.
Nun steht Corbyn an der Schwelle zur Downing Street Nr 10. Überschreiten wird er sie kaum, doch er hat es allen gezeigt, nicht zuletzt seinen internen Gegnern. Seinen Erfolg verdankt er vorab den jungen Briten. Sie vertrauen dem altlinken Sozial- und Revolutionsromantiker, der eine fragwürdige Nähe zu gewaltbereiten Gruppierungen wie der palästinensischen Hamas pflegt.
Man kann sich deswegen am Kopf kratzen. Doch viele Junge auf der Insel sind frustriert über die wachsende Ungleichheit oder die schlechte Qualität viele öffentlicher Dienstleistungen, die von den Konservativen in den letzten Jahren brutal zusammengespart wurden. Sie sehnen sich nach einem «gerechteren» Königreich. Die Tories haben diese Stimmungslage sträflich unterschätzt.
Nun steht das Land vor einer Phase der Unsicherheit. Das betrifft auch den Brexit. Es ist unklar, ob die Verhandlungen über den Austritt aus der Europäischen Union wie geplant am 19. Juni beginnen werden. Die Aussichten auf einen «harten» Brexit, einen Austritt ohne Abkommen, sind jedoch stark gesunken. Die nordirischen Unionisten, der einzige realistische Koalitionspartner für die Konservativen, haben klargemacht, dass für sie nur ein «sanfter» Brexit in Frage kommt.
Für die EU sind dies nur bedingt gute Nachrichten, denn der Austritt müsste innerhalb von zwei Jahren vollzogen werden. Dennoch wird man sich in Brüssel und in vielen Hauptstädten auf dem Kontinent auf die Schulter klopfen. Nach der Wahl des Proeuropäers Emmanuel Macron in Frankreich ist das Scheitern von Theresa May ein weiterer Lichtblick für die gebeutelte EU.