Ein weiteres Mal haben islamistische Fanatiker zugeschlagen, ein weiteres Mal in Grossbritannien. Der Anschlag vom Samstag in London war der dritte innerhalb weniger Wochen. Es folgten die üblichen Reaktionen: Donald Trump wütete auf Twitter, andere Staatsoberhäupter beliessen es bei Beileidsbekundungen, das Brandenburger Tor in Berlin leuchtete in den Farben des Union Jack.
Und doch hat sich einiges geändert. Ich erkannte dies am eigenen Verhalten. Als am späten Samstagabend erste Push-Meldungen über eine Amokfahrt auf der London Bridge auftauchten, ging ich instinktiv von einem Terroranschlag aus. Vor einem Jahr hätte ich mich vermutlich vor den Fernseher gesetzt und die Live-Berichterstattung verfolgt. Jetzt ging ich ins Bett, ich war müde.
Als ich am Sonntagmorgen das Ausmass der blutigen Attacke realisierte, reagierte ich fast schon mit einem Schulterzucken. So what? Es ist halt wieder passiert. Handelte es sich dabei um das unsensible Verhalten eines zynischen, abgebrühten Schreiberlings? Oder bin ich nicht allein? Vieles spricht dafür, dass sich in Sachen Islamisten-Terror eine Art Gewöhnungseffekt einstellt.
«Die Klickzahlen auf den Onlineportalen sind ein recht guter Gradmesser für das Publikumsinteresse. Sie zeigen: Terror ist längst kein Strassenfeger mehr», schreibt der publizistische Leiter des «St.Galler Tagblatt» in einem Leitartikel. Auch für watson gilt: Die Beachtung ist immer noch hoch, aber die Quoten gehen nicht mehr durch die Decke.
Typisch dafür sind auch die Reaktionen auf den Anschlag auf das Konzert von Ariana Grande in Manchester. Ein Selbstmordattentäter wollte mit seiner mit Metallteilen gespickten Bombe gezielt Kinder und Jugendliche töten. Vor ein oder zwei Jahren wäre das Entsetzen über diese widerwärtige Tat gewaltig gewesen, sie hätte tagelang die Schlagzeilen bestimmt. Jetzt ging man bald zur Tagesordnung über. Das SRF verzichtete auf eine Sondersendung.
Nur einen Tag nach dem Londoner Terror fand in Manchester das Benefizkonzert für die Opfer des dortigen Anschlags statt. Viele Stars traten auf, unter ihnen Ariana Grande. Weder sie noch das Publikum liessen sich die Feierlaune verderben. Auch in London selbst herrschte wieder Business as usual, und das lag nicht nur an der legendären Unerschütterlichkeit der Briten.
Es ist eine Tatsache: Wir sind daran, uns an den Terror zu gewöhnen.
Für die Opfer und ihre Angehörigen mag dies ein Affront sein. Für die Gesellschaft als Ganzes ist es eine gute Entwicklung. Es ist das Ziel der Islam-Fanatiker, unsere liberalen Demokratien aus den Angeln zu heben und zu Überreaktionen gegen Muslime zu bewegen. Islamophobe aus dem vorab rechten Lager spielen ihnen in die Hände, indem sie solche Massnahmen fordern.
Putting things into perspective: Risk of dying by terrorism versus other causes in the EU in 2016 https://t.co/8DtlWAIbSM pic.twitter.com/YbtfPf1jVH
— Dina D. Pomeranz (@dinapomeranz) 6. Juni 2017
Dieses Kalkül darf nicht aufgehen. Man braucht nicht Statistiken zu bemühen, wonach das Risiko verschwindend klein ist, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Es genügt ein Blick auf das grosse Ganze. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung sind eine weit grössere Herausforderung und Bedrohung für unsere Gesellschaft als extremistische Gewalttaten.
Wir scheinen das – ob bewusst oder unbewusst – durchaus verstanden zu haben. Frankreich ist dafür ein gutes Beispiel. Kein westliches Land ist in den letzten Jahren härter vom «IS»-Terror getroffen worden, mit drei verheerenden und mehreren kleineren Anschlägen. Trotzdem waren Islam und Terrorismus im Präsidentschaftswahlkampf nur am Rande ein Thema, auch nach dem jüngsten Angriff auf den Champs-Elysées. Klare Priorität genoss die schlechte Wirtschaftslage.
Sie betrifft alle Franzosen, während nur wenige direkt vom Terrorismus betroffen sind. Hinzu kommt, dass das Verhältnis von Frankreich und seiner muslimischen Bevölkerung nicht so schwarzweiss ist, wie es oft gezeichnet wird. Der Islamforscher Olivier Roy verwies im Interview mit watson darauf, dass viele arabischstämmige Franzosen den Front National wählen. Dessen Chefin Marine Le Pen weiss das genau, weshalb sie die Islam-Karte nur zurückhaltend ausspielte.
Ob sich die Terrorwelle auf die britischen Wahlen vom Donnerstag auswirken werden, wird sich zeigen. Auch im dortigen Wahlkampf hatten bislang andere Themen Priorität. Und die Labour-Partei verhält sich nicht ungeschickt, wenn sie der konservativen Regierungschefin Theresa May vorwirft, während ihrer Amtszeit als Innenministerin viele Polizeistellen gestrichen zu haben.
Sich an den Terror gewöhnen heisst aber nicht, dass man ihn akzeptieren soll. Auf keinen Fall. Dann soll man aber auch darauf hinweisen, dass es Muslime sind, die den «IS» im Irak und in Syrien am Boden bekämpfen und dabei viele Opfer zu beklagen haben. Und natürlich darf man eine Islam-Debatte führen, wie sie CVP-Präsident Gerhard Pfister im Stil eines Kulturkämpfers fordert. Aber dann muss man auch einen wichtigen und unangenehmen Aspekt ansprechen.
Saudi-Arabien und Katar sind die wichtigsten «Exporteure» des salafistischen Islam, der die ideologische Grundlage des Terrors bildet. Wenn sich diese beiden Länder nun einen Machtkampf liefern und die Saudis ihren kleinen Nachbarstaat beschuldigen, den Terrorismus zu fördern, wirkt das so, als ob ein Metzger einem Steak-Liebhaber dessen Fleischkonsum vorwerfen würde.
Gleichzeitig sind die schwerreichen Golfmonarchien herzlich willkommen, wenn sie etwa in unsere Hotels oder Grossbanken investieren. US-Präsident Trump, der Muslimen aus sechs Ländern die Einreise verweigern will, schliesst mit ihnen fette Waffendeals ab. Auch in der Schweiz wollen bürgerliche Politiker Waffen in die Golfstaaten exportieren, trotz der Kriege in Jemen und Syrien.
Statt über solche Themen zu reden, führt man Debatten über Scheinprobleme wie Burka und Minarette. Auch aus diesem Grund ist es nicht zu bedauern, wenn sich beim Terror ein Gewöhnungseffekt einstellt. Natürlich besteht die Gefahr, dass die islamistischen Fanatiker an der Eskalationsschraube zu drehen und noch spektakulärere Anschläge zu verüben versuchen.
In diesem Fall könnte der Paniklevel rasch wieder ansteigen. Aber eigentlich haben sie das schon in Manchester versucht, mit wie erwähnt überschaubarem «Erfolg». Das Reservoir an jungen, frustrierten Muslimen, die ihr Leben für die «göttliche» Sache opfern wollen, dürfte letztlich überschaubar sein. Davon geht auch Olivier Roy aus. Das Problem könnte sich von selber lösen.
Vorerst aber müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass der Terror uns auf absehbare Zeit erhalten bleibt. Je weniger wir uns dadurch aus der Ruhe bringen lassen, umso besser.