In Aleppo feiern sie dieses Jahr wieder öffentlich Weihnachten, zum ersten Mal seit vier Jahren. Im kaum zerstörten Westen der syrischen Metropole wurden die Lichter eines grossen Christbaums entzündet. Syriens Staatsmedien bejubelten die gemeinsame Feier von Christen und Muslimen, sekundiert von der Propaganda der Verbündeten Russland und Iran.
Die Bombe, die unweit davon explodierte, wurde kaum oder gar nicht erwähnt. Es kam niemand zu Schaden, der Sprengsatz war offenbar nicht sehr stark. Aber er erinnerte daran, dass gleichzeitig im zerbombten Ost-Aleppo ausgemergelte Menschen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf ihre Evakuierung warteten. Am Donnerstag wurde sie für beendet und Aleppo für «befreit» erklärt.
Weihnachten 2016 in Syrien ist, wenn das Assad-Regime «Normalität» vorgaukelt und weiterhin unzählige Menschen die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erleben, drangsaliert von Assads Truppen und ihren Verbündeten auf der einen und islamistischen «Rebellen» auf der anderen Seite.
Wie gut haben wir es doch bei uns im Westen, könnte man nun einwerfen. Aber es fällt schwer, seit am Montag ein Lastwagen in den Weihnachtsmarkt bei der Berliner Gedächtniskirche gerast ist. Was der Attentäter – ein mutmasslicher Islamist – bezweckt hat, kann er nicht mehr sagen. Er ist tot. Aber die Vermutung liegt auf der Hand, dass er möglichst viele Menschen töten wollte und es gleichzeitig auf das beliebteste Fest der Christenheit abgesehen hatte.
Anders als bei der Terrorwelle im Juli verhielt sich Deutschland gelassen. Es wurden keine Gerüchte in die Welt gesetzt, die wie beim Amoklauf in München die Stadt lahmlegten. Es wurden keine Fussballspiele abgesagt, ausser in der Hauptstadt wurden die unzähligen Weihnachtsmärkte tags darauf bereits wieder geöffnet. Nur die Sicherheit wurde verstärkt.
«Warum nicht gleich?», fragten sich viele, denn unterschwellig ist die Angst sehr wohl vorhanden. Sie lässt sich durch die ritualisierten Betroffenheitsbekundungen der Politiker nicht eindämmen, und erst recht nicht durch die Tatsache, dass die Gefährlichkeit von Anis Amri den Behörden bekannt war. Warum konnte er trotzdem frei herumlaufen? Auch das fragen sich viele.
Es ist eine gefährliche Entwicklung, sie lässt das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit erodieren. Darüber freuen sich nur jene Kräfte, die sich bereits wieder mit schrillen Tönen zu Wort gemeldet haben. Und so passt Weihnachten 2016 perfekt zu einem Jahr, das viele als Horror empfinden.
Stille Nacht, heilige Nacht? Eher eine schrille, unheilige Nacht.
Das säkularisierte Europa muss zur Kenntnis nehmen, dass die Religion sich zurückgemeldet hat. «Wenn 1990 jemand gesagt hätte, im Jahr 2016 würden religiöse oder pseudoreligiöse Strömungen wieder eine Rolle spielen, hätte ihm niemand geglaubt», sagte CVP-Präsident Gerhard Pfister in einem Interview mit der NZZ. Seine Antwort darauf ist eine Wertedebatte. Was Pfister nicht offen sagt, aber meint: eine, die auf christlichen Grundsätzen basiert.
Liegt hier der Keim für einen Kampf der Kulturen? So weit soll und muss es nicht kommen. Nötig ist eine differenzierte Betrachtung, denn die Realität ist komplex. Das zeigt gerade das Schicksal der Christen in Syrien. Sie gelten als treue Anhänger von Diktator Baschar Assad. Eine brandneue Studie der Londoner Denkfabrik Chatham House zeigt jedoch: So einfach ist das nicht.
Ein Teil der Christen hält demnach zu Assad, nicht zuletzt hohe Kirchenführer. Sie treten in der Öffentlichkeit auf und verzerren so die Wahrnehmung. Andere engagieren sich auf Seiten der Aufständischen und haben dies mit ihrem Leben oder mit Verfolgung durch das Regime bezahlt. Die Mehrheit allerdings fühlt sich laut der Studie keiner der beiden Seiten verbunden. Sie sehen die Revolution skeptisch, insbesondere nach ihrer Islamisierung, haben aber auch wenig Vertrauen in die Regierung: «Viele glauben, das Regime kümmere sich kaum um ihre Sicherheit», heisst es.
«Wie so viele Dinge in Syrien handelt es sich um eine Grauzone», schreibt der Studienautor, selber ein christlicher Araber. Ein wichtiger Punkt in einem Krieg, der vorwiegend nach Schwarz-Weiss-Muster wahrgenommen wird. Die Realität aber besteht aus Grautönen. Das sollte man auch im Umgang mit dem islamistischen Terror bedenken und mehr auf die Stimmen gemässigter Muslime hören. Auch sie haben Angst vor den Extremisten und werden von ihnen bedroht.
Das Denken in Grautönen bedeutet aber keine Relativierung. Es hilft niemandem, wenn säkulare Westler sich über die Rechtspopulisten empören, angesichts der Gräuel islamistischer Extremisten aber betreten zu Boden schauen. Es bringt wenig, sich in Syrien an die Fiktion der «gemässigten» Rebellen zu klammern, wenn die Realität anders aussieht. Man soll und muss von den Muslimen den Respekt vor unseren Werten einfordern, ohne sie mit Burkaverboten zu traktieren.
Ein friedliches Zusammenleben der Religionen in Europa ist nicht nur möglich, sondern machbar. Denn die Muslime sind ein Teil unserer Gesellschaft, es bringt nichts, sie auszugrenzen. Dazu muss der Rechtsstaat seinen Beitrag leisten, auch mit Methoden, die uns vielleicht nicht besonders sympathisch sind. Und wir säkularen Westler, die das Konzept Religion für überholt halten, müssen zur Kenntnis nehmen, dass es nicht so schnell verschwinden wird.
Als nichtreligiöser Mensch bleibt mir deshalb auch in diesem schwierigen Jahr nur ein Wunsch: Frohe Weihnachten, in Aleppo, in Berlin und überall.