Die Beschlüsse des EU-Sondergipfels zur Flüchtlingskrise am Mittelmeer sprechen eine klare Sprache: Es ist die der Abschreckung. Die Mittel für den Grenzschutz sollen verdreifacht, die Schlepper bekämpft und ihre Boote zerstört werden. Afrikanische Staaten sollen ihre Landesgrenzen besser kontrollieren, damit die Flüchtlinge gar nicht bis an die Küste gelangen. Wer es trotzdem nach Europa schafft, soll rasch abgeschoben werden.
Die «Festung Europa» soll standhalten, um jeden Preis. Von einer grosszügigeren Aufnahme, mehr Möglichkeiten zur legalen Einwanderung oder Verteilquoten auf die Mitgliedsstaaten war keine Rede. «Der Flüchtlingsgipfel der EU – er war ein Gipfel des Selbstbetrugs», kommentierte der ARD-Hörfunk die Beschlüsse vom Donnerstag. Die «Abschreckungs-Union» werde nicht funktionieren, weil kein Schrecken grösser sei als jener, dem die Flüchtlinge entkommen wollten.
Und weil Europas Attraktivität ungebrochen ist, Eurokrise hin oder her. So lange der Kontinent als Hort des Wohlstands und der Stabilität erscheint, so lange werden Menschen, die unter Armut, Perspektivlosigkeit und Krieg leiden, zu uns kommen. Und sich durch nichts aufhalten lassen.
Gerade die Schweiz hat damit ihre Erfahrungen gemacht. Wiederholt wurde in den letzten 30 Jahren das Asylgesetz verschärft. Die Zahl der Asylbewerber aber nahm höchstens kurzfristig ab, denn die Magnetwirkung des «Paradieses» Schweiz ist zu gross. Selbst wenn wir eine Mauer um das Land errichteten, die Flüchtlinge würden einen Weg finden.
Zeit, das Undenkbare zu denken: Warum nehmen wir in Europa die Flüchtlinge nicht einfach auf?
Es ist eine ketzerische Frage in einer Debatte, in der die Vernunft zwischen Empörung auf der einen und Zynismus auf der anderen Seite einen schweren Stand hat. Erste Stimmen in diese Richtung aber sind zu vernehmen. Alle reinzulassen sei «die einzige echte Lösung für Europas Migrationskrise», schreibt das linksliberale US-Onlineportal Vox. Auch Thomas Schmid, Herausgeber des rechtslastigen Springer-Blatts «Die Welt», rüttelt am Tabu: «Europa, der enge und doch weite Kontinent, könnte viel mehr Flüchtlinge als bisher aufnehmen.»
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern hat mehr als einer Million Bürgerkriegsopfern aus Syrien Zuflucht geboten. Ein Kraftakt, der das kleine Land an die Grenzen der Belastbarkeit bringt. Und der doch aufzeigt, welche Möglichkeiten Europa hätte.
Selbst die angeblich eine Million Flüchtlinge, die in Libyen zur Fahrt über das Mittelmeer bereit sein sollen, wirken im Vergleich relativ. «Unsere wohlgeordnete Halbinsel verfügt noch immer über viel Aufnahme-, Anverwandlungs- und Integrationskraft», meint Thomas Schmid.
Umfragen zeigen, dass die Europäer womöglich grosszügiger sind, als ihre Regierungen annehmen. Laut einer am Freitag vorgestellten Umfrage der ARD wollen 50 Prozent der Deutschen mehr Flüchtlinge aufnehmen, 44 Prozent sind dagegen. Eine grosse Mehrheit von 70 Prozent sprach sich dafür aus, legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa zu schaffen. Der alternde, müde Kontinent könnte die meist sehr motivierten Migranten gebrauchen.
Die Kehrseite einer grosszügigen Aufnahme sollen nicht verschwiegen werden. Wenn Europa seine Tore für Einwanderer öffnet, könnte eine Sogwirkung entstehen, die nicht zuletzt den Herkunftsländern schadet. Flankierend müssten die Lebensbedingungen dort verbessert werden. In Nordafrika sollten die Europäer jene Staaten tatkräftig unterstützen, in denen Ansätze zu einer positiven Entwicklung erkennbar sind, Marokko etwa und vor allem Tunesien.
Eine starke Einwanderung aus Afrika und Nahost wird zudem das Gesicht des Kontinents verändern – eine Perspektive, die viele ängstigt. Schmid sieht ein Europa, «in dem es die rechtsstaatlich-republikanische Leitkultur schwerer als bisher haben wird, sich zu behaupten». Das mag übertrieben sein, schliesslich wollen viele wegen dieser Leitkultur zu uns. Die Herausforderungen an die von Schmid gerühmte Integrationskraft werden trotzdem immens sein.
Die heutigen Regierungen wollen sich ihnen nicht stellen. Sie fürchten, dass die geringste Lockerung der restriktiven Flüchtlingspolitik den Rechtspopulisten in die Hände spielen wird. Der britische Premierminister David Cameron kündigte am Brüsseler Gipfel mit markigen Worten die Entsendung eines Kriegsschiffs ins Mittelmeer an, von einer Aufnahme von Flüchtlingen wollte er aber nichts wissen. Cameron droht die Abwahl, weil die einwanderungskritische United Kingdom Independence Party (Ukip) seinen Konservativen Wähleranteile abjagt.
Auch die Schweiz bietet hier ein unrühmliches Beispiel: Das Thema Asyl ist neben der EU der wichtigste Erfolgsfaktor der SVP. Nicht umsonst hat sie damit geliebäugelt, im Wahljahr eine neue Asyl-Initiative zu lancieren. Dabei trägt Europa eine Mitverantwortung an der Misere. Man muss dazu nicht gleich die alte Kolonialismus-Platte auflegen. Europäische Schiffe fischen die Gewässer Afrikas leer und entziehen den lokalen Fischern die Lebensgrundlage. Gleiches gilt für die Bauern, die durch hoch subventionierte europäische Agrarprodukte bedrängt werden.
Eine grosszügige Aufnahmepraxis wäre ein Gebot der Vernunft. Die Realpolitik verhindet, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt. So lange Europa aber ein Magnet für die Armen und Gepeinigten bleibt, so lange werden sie kommen und lieber im Meer ertrinken, als die Hoffnung auf ein besseres Lebens aufzugeben.
Wer glaubt, dass Abschreckung das Problem lösen wird, belügt sich selbst.
Wenn schon, dann sollten wir uns um die Frauen und Kinder kümmern, die liessen sich auch leichter integrieren.