Die Spannung stieg gestern in der katalanischen Hauptstadt Barcelona stündlich. Schon am Nachmittag hatten sich beim Triumphbogen in der Nähe des Parlaments bereits mehrere tausend Menschen eingefunden und beobachteten auf einer Leinwand, wie der Präsident der katalanischen Regionalregierung, Carles Puigdemont, ins Auto stieg und die wenigen hundert Meter vom Regierungsgebäude zum Parlament durch die Stadt fuhr. Ganz Katalonien, ganz Spanien, ganz Europa wartete darauf, dass es 18 Uhr wird. Denn auf diese Uhrzeit hatte Puigdemont eine Rede zur Lage der Nation angekündigt.
«Ohne wenn und aber»
Die 24-jährige Gerberga ist aus einer Kleinstadt ausserhalb Barcelonas angereist. Sie posiert mit der rot-gelben Flagge der Katalanen auf einem Traktor, den separatistische Bauern in die Hauptstadt gefahren haben. Sie studiert katalanische Philologie wie einst Präsident Puigdemont. Nun erwartet sie von ihm, dass er die Unabhängigkeit ausruft. «Und zwar ohne wenn und aber.»
Auf dem Paseig de Lluis Companys hatten sich zu diesem Zeitpunkt noch mehr Leute eingefunden. Sie gaben ein Bild ab wie sonst nur am 11. September, dem Nationalfeiertag der Katalanen. Allerdings waren in den letzten Wochen auch schon mehr Katalanen auf der Strasse gewesen. Es zeigten sich gestern auch erste Ermüdungserscheinungen. «Ich werde mich ab 15 Uhr zu Hause einschliessen», sagte am Morgen die Angestellte eines Kiosks mit Blick auf die Zeitungen in ihrer Auslage. Die meisten zeigten Präsident Puigdemont und schrieben über den Tag seiner Entscheidung, riefen ihn zur Vernunft auf oder drohten ihm mit Knast.
Erst Applaus, dann Stille
Der Applaus tost über den Platz vor dem Triumphbogen, als Puigdemont endlich an das Mikrofon tritt. Dann wird es ganz still. Als Erstes sagt der Präsident, die Sache der Katalanen sei nun nicht mehr eine Sache innerhalb des spanischen Staates, sondern eine europäische Angelegenheit. Liesse sich dies an der Medienpräsenz messen, hätte er recht, das Parlamentsgebäude platzte aus allen Nähten und die Sicherheitsleute drückten beide Augen zu, um den Einlass der Presseleute nicht zu verzögern.
Puigdemont erwähnte dann das Referendum vom 1. Oktober, als nach seiner Lesart die Katalanen einen demokratischen Akt gegen die Knüppel Madrids durchgesetzt haben. «Der Schuss ist nach hinten losgegangen», spottete er in Richtung Zentralstaat. Dann holte er noch weiter aus und betete die Etappen hinunter, welche die Katalanen auf ihrem Weg zur Unabhängigkeit zurückgelegt hätten. Als er den Namen des Diktators Franco erwähnt, geht ein Raunen durch die Menge, dann Pfiffe und Buhrufe. Das Ende der Franco-Diktatur sei ein guter Anfang gewesen. Dann habe man versucht, den Status der Katalanen als eigenständige Nation schrittweise zu verbessern. 2006 wurde das neu formulierte Autonomie-Statut von den Parlamenten in Madrid und Barcelona abgesegnet.
Dann aber von den Leuten, die jetzt an der Regierung sind, vor Gericht gezogen und bis zu Unkenntlichkeit verändert. Schliesslich hätten die Katalanen den Weg einer Volksbefragung gesucht. Dass diese nicht wie in Schottland friedlich stattfinden konnte, sei die Schuld der Regierung in Madrid. Zum ersten Mal überhaupt in Europa seien Wähler auf dem Weg an die Urne von Polizisten niedergeknüppelt worden.
Und dann kam der zentrale Satz: «Demokratie reiche weiter als die Verfassung», sagte er. Es war ebendieser Verfassungsverstoss, aufgrund dessen das Referendum für illegal erklärt und mit Polizeigewalt bekämpft wurde. Nun hätte Puigdemont die Unabhängigkeit ausrufen können, doch er sagte lediglich, die Katalanen hätten an der Urne gesprochen und sich für einen eigenen Staat ausgesprochen.
Dann bat er das Parlament darum, die Unabhängigkeit während einiger Wochen zu suspendieren, um in einen Dialog einzutreten. Er wiederholte seine Forderung nach einer Mediation und erwähnte internationale Vermittlungsversuche wie jene einer Gruppe von Nobelpreisträgern.
Pfiffe, Pscht-Rufe und Applaus überlagerten sich nun und spiegelten die Uneinigkeit unter den Katalanen. Tatsächlich hätte keine Unabhängigkeitserklärung die gesamte Bewegung zufriedengestellt. Manche wollen einfach nur in Ruhe noch einmal über die Frage abstimmen, andere drängen auf die sofortige Abspaltung und schielen schon auf andere Gebiete in Valencia oder auf den Balearen.
Die Polemik geht weiter
Schauspieler Jordi (34) aus Barcelona ist zufrieden mit seinem Präsidenten. «Poc a poc», sagt er, der gebannt der Rede gelauscht hatte, «Stückt für Stück». An der Absperrung zum Parlament schreit ein Mann mit einer Bierflasche in der Hand «Puigdemont, Verräter». Die Philologiestudentin Gerberga hat sich zu diesem Zeitpunkt wohl schon auf den Heimweg gemacht. Ihren Präsidenten vor der spanischen Polizei verteidigen musste sie heute nicht. Aber sie dürfte von ihm enttäuscht sein.
Unzufrieden ist freilich auch die spanische Regierung. Es sei nicht akzeptabel, dass Puigdemont zuerst die Unabhängigkeit implizit ausrufe und sie dann explizit suspendieren lasse. Die Kioskfrau behielt schliesslich recht. Als Prognose sagte sie gestern Morgen nur: Die Polemik wird so oder so weitergehen.